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Kunstgewerbeblatt: Vereinsorgan der Kunstgewerbevereine Berlin, Dresden, Düsseldorf, Elberfeld, Frankfurt a. M., Hamburg, Hannover, Karlsruhe I. B., Königsberg i. Preussen, Leipzig, Magdeburg, Pforzheim und Stuttgart — NF 28.1917

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Jessen, Peter: Reisestudien, [9]
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https://doi.org/10.11588/diglit.4829#0264

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Theodorskirche in Nowgorod, 1360

können, hatte ich mich mit ihrer Sprache schon
vertraut gemacht. Ich durfte Rußland als ein
drittes, würdiges Ziel in meinen Reiseplan ein-
stellen und habe mich nicht getäuscht. Ü

Mitte September 1913 brach ich von Peking
auf. Es ging noch einmal über Mukden. In
Charbin, wo man auf die sibirische Bahn stößt,
nahm ich nicht einen der nichtssagenden Aller-
welts-Luxuszüge, sondern einen russischen so-
genannten Postzug. Er braucht bis Petersburg
nur zwei Tage mehr, kostet den dritten Teil,
hält in regelmäßigen Abständen auf den Bahn-
höfen, wo gute, wohlfeile Mahlzeiten nach Landes-
sitte bereit stehen; man sieht und hört allerlei
von Land und Leuten und fand vor dem Kriege,
wenn man Glück hatte, in russischen Offizieren
und Beamten angenehme und lehrreiche Gesell-
schaft. So ging es einen Tag durch die Mand-
schurei, dann nördlich der Mongolei, aus der
wir buntfarbige Reitertypen zu sehen bekamen,
durch das bergige Ostsibirien bis zu den Fels-
ufern des Baikalsees und weiter durch die gleichförmigen Birken- und Tannenwälder und endlosen Ebenen
bis zum Ural. An den mächtigen Flüssen oft eine ganz junge, weitgedehnte Holzstadt mit überragenden
Kuppelkirchen, z. B. Nowo-Nijolajewsk, das vor zwanzig Jahren noch ein Fischerdorf war. Ich wäre gern
in Irkutsk ausgestiegen, um die Sammlungen sibirischer Volkskunde kennen zu lernen, eilte aber lieber dem
alten Rußland zu. Am elften Tage erreichten wir Petersburg.

Dort kam ich eben recht zu einer Versammlung meiner Fachgenossen, Museumsleitern, meist Deutschen,
aber auch guten Freunden aus Paris und England. Wir sind durch die russischen Kollegen, unter denen
sich die Balten auszeichneten, mit dem Kunstbesitz in Petersburg bestens vertraut geworden. Mir lag daran,
nebenher die Baudenkmäler zu sehen und meine Bücherkenntnis zu vertiefen. Ich muß dankbar des Archi-
tekten Gahlenbaeck, des Bibliothekars am Stieglitzmuseum, und des Grafen Subow gedenken, des verdienst-
vollen jungen Schöpfers einer großen kunstgeschichtlichen Bibliothek, für die wir in Berlin noch immer
einen Stifter suchen, der uns hülfe, den Bestand im Kunstgewerbe-Museum für die Zwecke der Wissenschaft
zu vervollständigen. Unsere Beobachtungen haben wir Museumsleute in Moskau fortgesetzt. Ich konnte
noch weiter südwärts in das ehrwürdige Kiew und bis Odessa fahren, um meine Vorstellungen von Land
und Kunst zu bereichern. Sie ordnen sich, wie alles Russische, von selbst in zwei Kreise: das alte Rußland,
das ursprüngliche, absonderliche, einzigartige, und das europäische Rußland des 18., ig. und 20. Jahrhunderts.
Jenem soll diese erste Studie gelten, diesem eine zweite, der Beschluß der ganzen Reihe.

Das alte Rußland ist für den Kunstfreund aus dem Westen schwer zu fassen. Ein Volk von komplizierter
Stammesart und fremdem Glauben; formen- und farbenfroh, für Handwerk und Zierkunst reich begabt; im
Verlaufe seiner bewegten Geschichte vielerlei Völkern benachbart und ihrem Einfluß allzuweich zugänglich;
verwirrt durch diese Überfülle verführerischer Anregungen und doch durch Kirche', Staat und Gesellschaft
auf allen Seiten gehemmt; deshalb ohne inneren Ausgleich, maßlos im
Guten wie im Schlimmen, mehr zu kühnen Versuchen als zu zäher Ziel-
arbeit befähigt; so stellt es nicht nur dem oberflächlichen Betrachter, sondern
auch dem ernsthaften Forscher, dem Fremden wie dem eigenen Lands-
mann, Rätsel über Rätsel. Unter dem Bestand an alten Kunstwerken haben
Feuer und Schwert grausamer als in Westeuropa aufgeräumt. Die ur-
sprünglichen Holzbauten der alten Städte sind verbrannt und zwischen
ihnen auch mancher frühe Steinbau. In die werdende Kultur des Mittel-
alters sind dieMongolenscharen eingebrochen, gleich Heuschreckenschwärmen
alles verheerend, die Gebäude mitsamt all ihrem Inhalt. Das Gerettete
überdies ist über weite Landschaften verstreut und schwer zu erreichen.
Die frühe, starke Baukultur des Nordens in dem alten Nowgorod und
seinen Nachbarstädten; die großen und kleinen Zentren Großrußlands,
die über Moskau weit in den Osten hinausreichen; und der Süden, die
Ukraine, mit Kiew als uraltem und immer wieder erneuertem Mittelpunkt.
Noch entlegener die eigenartigen Reste der Holzarchitektur, zum Teil im
hohen Norden.

In das Wesen dieser Holzbaukunst, der ursprünglichsten Schöpfung
russischer Gestaltungskraft, fühlt man sich zwanglos eingeführt schon auf ooidener Trinkbecher (Bratina), 17. jahrh.

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