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Kunstgewerbeblatt: Vereinsorgan der Kunstgewerbevereine Berlin, Dresden, Düsseldorf, Elberfeld, Frankfurt a. M., Hamburg, Hannover, Karlsruhe I. B., Königsberg i. Preussen, Leipzig, Magdeburg, Pforzheim und Stuttgart — NF 28.1917

DOI Artikel:
Jessen, Peter: Reisestudien, [9]
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https://doi.org/10.11588/diglit.4829#0266

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Kapelle, Blockbau, Nordrußland

bau, der Grund und Gipfel der russischen Kunst.
Wer vor dem Kriege in Rußland reiste, ward
ja gedrängt, schon das Leben der Kirche als den
einprägsamsten Charakterzug des Landes auf-
merksam zu verfolgen. Man ward nicht müde,
zu allen Tageszeiten, an Alltagen wie an Fest-
tagen, sich unter die Scharen der Gläubigen zu
mischen. Zwischen den riesenhaften Marmor-
säulen der Isaaks-Kathedrale in St. Petersburg
lauschte ich bei der Sonntagsmesse unter ele-
ganten Damen und Herren den überwältigenden
Chören der Sänger, Männer und Knaben, die,
selber unsichtbar, jenseits der heiligen Schranke
singen, als seien die Gewölbe und Pfeiler selbst
in zauberische Klangschwingungen geraten.
Gleich packend der Eindruck einer nächtlichen
Massenandacht in der riesigen Erlöserkirche in
Moskau: in der mächtigen Kuppelhalle Kopf an
Kopf ein Menschenheer aus allen Volksschichten,
unten alles in tiefer Dämmerung, nur in der
Ferne an einigen Altären festliches Blinken von
Kerzen und Meßgewändern, und oben wie im
Himmelsraum einige Lichtpunkte gleich ver-
heißungsvollen Sternen. Dann wieder in einer ganz engen, alten, goldstroizenden Kapelle bärtige Priester-
gestalten, wie sie Rubens gemalt hat, umdrängt von Gläubigen mit Weihekerzen in den Händen, ein un-
vergleichliches Lichterspiel in allen Tönen. Bekanntlich kennt die griechische Kirche kein Gestühl. Wo es
der Ritus fordert, kann das Volk sich niederwerfen in den Staub, den es selber von der Straße hereinge-
tragen hat; es küßt die Steinfliesen so inbrünstig, wie es eben die Särge der Heiligen und die Goldbilder
der Altarschranke geküßt hat. Dazwischen verspritzt der lockenumwallte Pope aus faustdickem Wedel ganze
Springbrunnen von Weihwasser und füllt wohl auch aus demselben Eimer einer besorgten Mutter für das
todkranke Kind auf ihrem Arm einen geweihten Trank in ihr Fläschchen. Man erlebt, ohne darauf auszu-
gehen, die seltsamsten mittelalterlichen, ja urzeitlichen Züge.

Diesem farbigen Gedränge gibt das Innere der russischen Kirche den wirksamen Hintergrund. Bekannt-
lich pflegt der meist quadratische Hauptraum mit seinen vier oder mehr Pfeilern von dem Chor durch eine
hohe Wand, den Ikonostas, geschieden zu sein mit mehreren Reihen von Heiligenbildern in vergoldeten,
versilberten, mit Steinen und buntem Glas übersäten Rahmen.
Nach kirchlicher Tradition ausgewählt, selten zu zwingenden
Rhythmen geordnet, wirkt diese Bilderschar meist nur als
bewegte, blinkende Fläche. Sie durchschneidet die Reize
der Raumwirkung, die wir in den westlichen Kirchenräumen
als die entscheidende Kunstleistung schätzen, den Einklang
des Langhauses mit dem Querschiff, den Einblick in die
Vierung und den Chor. Selbst der Hauptaltar ist unsichtbar,
und nur auf Augenblicke öffnet sich während der heiligen
Handlung die trennende Tür für den amtierenden Geistlichen.
Auch der Liturgie der russischen Kirche, schien mir, fehlt die
großzügige tektonische Rhythmik des Westens. Alles ist auf
malerische Einzelbilder und gleißende Ornamentik gestellt.

Und doch ist diese ungeordnete Pracht im russischen
Kirchenbau nicht das Ursprüngliche. So lange im Mittel-
alter mit der Kirchenlehre auch die Kunst unmittelbar von
Byzanz herübergeleitet wurde, gab es auch auf russischem
Boden Räume von großzügiger Gliederung und höchst
monumentalem Schmuck. Damals war der Chor noch nicht
durch eine starre Wand, sondern nur durch einen beweg-
lichen Vorhang über einer niedrigen Schranke gesperrt.
Noch steht als stolzester Rest in Kiew die Sophien-Kathedrale,
die Kirche der göttlichen Weisheit, im Innern unversehrt,
vor den Tatarenhorden, die im Jahre 1240 das süd-
russische Fürstentum überrannten, und vor den Barockbau-
meistern, die im 17. Jahrhundert die Kirche erweiterten und Marienbild aus Elfenbein, 17. jahrh.

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