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Kunstgewerbeblatt: Vereinsorgan der Kunstgewerbevereine Berlin, Dresden, Düsseldorf, Elberfeld, Frankfurt a. M., Hamburg, Hannover, Karlsruhe I. B., Königsberg i. Preussen, Leipzig, Magdeburg, Pforzheim und Stuttgart — NF 28.1917

DOI Artikel:
Jessen, Peter: Reisestudien, [9]
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https://doi.org/10.11588/diglit.4829#0267

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Kirche mit Glockenturm, Holzbauten im Gouv. Olonez, Anfang 18. Jahrh.

außen nach ihrem Geschmacke ausgestalteten.
Am Gewölbe und im Chor noch wirkungsvolle
Reste großliniger Mosaiken, vor allem eineheilige
Jungfrau in der Halbkuppel der Apsis, über
sieben Meter hoch, als Herrscherin über den
ganzen Raum. An den übrigen Wänden, gleich-
falls aus dem 11. Jahrhundert, heilige Gestalten
in Kalkmalerei, am seltsamsten und durch ihren
Inhalt wertvollsten im Treppenhause weltliche
Bilder aus den Jagden und Festen des Kaiser-
hofes. Wandmalereien aus wenig jüngerer Zeit
sind auch in nördlicheren Kirchen Rußlands
erhalten und jüngst auch in Moskau bei der
sorgfältigen Untersuchung der Kathedrale Maria
Himmelfahrt ans Licht gekommen.

Um die altrussische Baukunst in ihren reinsten
Äußerungen zu würdigen, hätte ich von Peters-
burg aus die alten Kulturstädte des Nordens
aufsuchen müssen, die vor dem Aufstieg von
Moskau der Mittelpunkt kraftvoller Teilherr-
schaften gewesen und von tatarischen Verwüstungen verschont geblieben sind, insbesondere das alte Now-
gorod (nicht zu verwechseln mit Nischni-Nowgorod) und neben ihm Pskow (deutsch: Pleskau). In ihnen
stehen Steinkirchen von großem, schlichtem Massen- und Kernbau, entschlossenen Umrissen und zurück-
haltendem Schmuck; griechische Typen, ins Nordische übersetzt und völlig zu etwas Eigenem verarbeitet,
als hätte eine ganz andere Stammesart oder die Nähe deutscher Besonnenheit sie umgeformt. Grabar und
einige Sonderwerke über russische Kunststätten geben davon überraschende Bilder; ich bin leider zu spät
auf sie aufmerksam geworden. Man lernt erst durch sie verstehen, daß die bunte, mehr zierende als bauende
Richtung, die seit dem 15. Jahrhundert in Moskau die Oberhand gewonnen hat, nur eine Abart, ja ein Abweg
ist. Schon die berühmten zarischen Kathedralen im Innern des Kreml können sich mit der inneren Größe
jener älteren Bauten nicht messen. Und gern überzeugt man sich, daß vollends die wahnwitzige Ausgeburt
von Aufbau und Auszier, die Basilius - Kathedrale neben dem Kreml, die dem Reisenden als Inbegriff des
russischen Stils wie ein böser Traum im Sinne zu bleiben pflegt, eine Einzelerscheinung und kein Typus
ist. Wer sich umsieht, wird vielmehr auch im Bereiche der Moskauer Baukunst, die weit nach Osten aus-
griff, manche launige, aber im Kern besonnene Anlage finden, wie die vom Holzbau bedingten Zelt- und
Turmkirchen, die wuchtigen Glockentürme u. a. Die gelegentliche Mitarbeit italienischer Architekten im Dienste

der Zaren hat nur in dekorativen Einzelheiten ihre Spur hinterlassen.

Der russische Kirchenstil, wie er heute mit lautem Glanz die
alten und neuen Stadtbilder beherrscht, ist erst das Werk der Barock-
zeit, zuerst entwickelt in dem neu erblühenden Süden, unter Einfluß
des benachbarten polnischen Barock. Kiew stellt ihn noch heute
am machtvollsten dar. Ich habe das Städtebild Kiew als den stärksten
Eindruck meiner russischen Reise zu buchen. Am Südufer des
Dnjepr, auf ansehnlichen Höhen, eine Hügelstadt, jede Kuppe be-
krönt von hohen weißen Kirchen mit goldenen oder bunten Kuppeln,
meist in den bekannten barocken Zwiebelumrissen. Neben den stolzen
Gruppen der Kathedralen eine ganze Schar weiträumiger Klöster mit
Mauern, Toren, breiten Glockentürmen, Wohnstätten, Verwaltungs-
häusern inmitten hoher Bäume nnd weiter Feldgärten. Das alles
gegen den Fluß gerichtet, so daß der von Norden her durch die
Ebene Anfahrende schon ganz von weitem das Geistliche herrschen
und das Bürgerliche sich unterordnen sieht. Der Eindruck wird
bestätigt, wenn man die prunkvollen Innenräume der Kirchen be-
tritt. Allein auch hier ist, soweit ich sah, die wechselreiche Raum-
wirkung westlicher Barockkirchen nicht erreicht, weil die Bilder-
schranke solche Möglichkeiten versperrt. Auch die berühmten Klöster,
kleine Städte fast an Umfang und Verkehr, fügen künstlerisch nichts
hinzu, so sehr ihr Besuch sich für den Freund des Volkstums lohnt,
wie etwa das Höhlenkloster in Kiew mit seinen fast unheimlichen
Katakomben oder das wehrhafte Dreifaltigkeitskloster des heiligen
Sergius unweit Moskau, vor dessen weißen Mauern, grünen Dächern
Buchdeckel aus Leder, Anfang 15.jahrh, und blutroten Türmen 1608 die Polen umkehren mußten, mit seinen

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