Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Kunstgewerbeblatt: Vereinsorgan der Kunstgewerbevereine Berlin, Dresden, Düsseldorf, Elberfeld, Frankfurt a. M., Hamburg, Hannover, Karlsruhe I. B., Königsberg i. Preussen, Leipzig, Magdeburg, Pforzheim und Stuttgart — NF 28.1917

DOI Artikel:
Jessen, Peter: Reisestudien, [9]
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.4829#0270

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Eisenarbeit, ein Spitzhelm mit den zartesten Einlagen von unerschöpflich reichhaltiger Ornamentik. Neben
Prachtbeispielen europäisch geschnittener Rüstungen und Helme herrschten orientalische Typen vor, Ketten-
hemden und vor allem herrliche, meist krumme Schwerter mit Griffen und Scheiden aus allen edelsten Stoffen
und mit Klingen, an denen man die einzigartige Fertigkeit der japanischen, türkischen und persischen Schmiede
würdigen lernt. Hier versteht man, wie eng der Austausch zwischen den Russen und ihren östlichen Nach-
barn gewesen ist, und wie er sich auch in der Ornamentik anderer Kunstgebiete bis in die Baukunst hinein
geltend machen mußte. Auch Zaumzeuge und Sattelzeug von solcher Qualität sind nirgendwo sonst in
/ der Welt erhalten.

Unter dem Silbergeschirr und -gerät am alten Zarenhofe haben an Massen und Pracht die Stücke west-
licher Arbeit überwogen; wir werden von dem einzigartigen Saal im Kreml, in dem sie heute museumsartig
aufgebaut sind, noch zu sprechen haben. Das russische Geschirr, das man dort und in anderen öffentlichen
und privaten Sammlungen sieht, steht weder durch die Arbeit noch durch Erfindungkraft hoch, zeigt aber,
wie auch die russischen Goldschmiede vielerlei Anregungen aus West und Ost mit einer Art volkskünstle-
rischer Unbefangenheit sich zu eigen zu machen wußten. Ihr sicheres Gefühl für Flächenzierat bewährt sich
besonders in den beliebten Schriftzeilen; die altrussische Kirchenschrift mit ihren orientalisch anmutenden
dekorativen Zügen gab ihnen das Mittel zu schönen Wirkungen an die Hand. Wie die eigenartigen Ge-
fäßtypen ihrem jeweiligen Zweck entsprechen und sich aus den Trinksitten des alten Rußlands herleiten,
wird anschaulich, wenn man sie an Ort und Stelle in die Hand nehmen darf. Da ist der Schöpfbecher,
Kowsch, mit seinem aufgebogenen Griff, groß oder klein, je nach der Art des Trankes, den der Gast sich
in ihm aus dem großen, gemeinsamen Vorratsgefäß auf der Tafel entnahm; dieselbe Form, die sich aus
Holz bis heute im Volksgebrauch erhalten hat. Da ist die Tscharka, das Schälchen, mit einem kleinen,
platten Griff an der Seite, auch wohl mit zweien, um sicherer in den Händen zu ruhen, denn es dient zum
Branntwein, und man kann auf seiner Innenseite wohl auch ein warnendes Sprüchlein eingeritzt finden, wie
»Ich bin der schlüpfrige Weg der Wahrheit«. Da ist der runde, fußlose Becher, die Bratina, der »Bruder-
becher«, der unter den Zechern umzugehen pflegte. Das sind Typen, die sich im Volke bis heute gehalten
haben, in Silber, Kupfer und Holz.

Zum Altrussischen in Handwerk und Kunst muß man auch die mannigfachen Reste der sog. Volkskunst
zählen, die heute in Rußland fast über Verdienst geschätzt und gesammelt werden, im Museum Alexanders III.
in Petersburg, im Historischen Museum in Moskau, dem Peter Schtschukin (f 1912) Massenbestände gestiftet
hat, und sehr planvoll in der Ukraine an vielen Orten, vor allem in einer großen Sammlung in Kiew. Es
wäre eine anziehende Aufgabe, für diese Fülle von Gebrauchstypen, Techniken und Verzierungen die Quellen
nachzuweisen, Heimisches aus oft früher Zeit, etwa byzantinische Seidenmuster, oder die derben Konstruktionen
und ursprünglichen Kerbschnitte der Möbel und Holzgeräte, Orientalisches in den Teppichen, Ranken- und
Blumen werk der Barockzeit in den Stickereien u. a. m. Man müßte absondern, was mit Unrecht zur Volks-
kunst gezählt wird, nur weil es als billige und schlechte Handwerksware einst vom Volke gekauft wurde.
Im ganzen aber hat der russische Bauer auf seinen weitverstreuten Dörfern und während der langen Winter
sein angeborenes Geschick für Werkarbeit und Formenspiel zu allen Zeiten bewährt und mehr als anderswo
auch schwierigere Techniken neben seinem bäuerlichen Berufe geübt. Besonders rollt in den Adern der
braunäugigen Kleinrussen in der Ukraine zweifellos Künstlerblut. Der farbigen Anmut der Trachten und
dem sicheren Flächenschmuck der Stickereien und Töpfereien wird sich niemand entziehen, der sie nicht
aus den öden Musterbüchern der siebziger und achtziger Jahre, sondern an Ort und Stelle in erfrischender
Wirklichkeit vor Augen hat. Eine große russische Trachtensammlung steht in dem ausgedehnten Rumjanzow-
Museum in Moskau.

Über die freie Kunst des alten Rußlands wage ich nicht mich zu äußern. Bekanntlich ist sie nur als
Malerei geübt worden, weil die Kirche plastische Bildwerke nicht zuließ. Die gemalten Heiligenbilder, die
Ikonen, wollten uns bisher als recht unselbständige, geistlose, gleichförmige Nachwirkungen byzantinischer
Vorbilder erscheinen. Neuerdings bemühen sich die russischen Gelehrten voll Hingabe, Malschulen zu sondern,
Meister zu entdecken und persönliche wie nationale Eigenart nachzuweisen. Ich hatte Gelegenheit, in dem
neuen großen Museum Alexanders III. in Petersburg unter Führung von Kennern wie Professor Kondakoff
einen Einblick in die Bestände und Untersuchungen zu tun. In der Tat blitzt hie und da ein anmutender
Zug individueller Anschauung auf, und auch die Schemata bewahren oft eine gewisse Größe, die der heutigen
Sehnsucht nach Monumentalität entgegenkommt. Allein ich bin durch das, was ich dort und an anderen
Stellen sah, doch nicht überzeugt worden, daß nicht die eigentliche und einzig starke Kunstschöpfung der
Russen ihre Baukunst gewesen ist. Auch die von russischen Forschern so hoch gepriesene Ornamentik der
alten Handschriften wie sie die Ausstellung der kaiserlichen Bibliothek in Petersburg vorführt, hat mich nicht
eines Besseren belehrt. PETER JESSEN.

220 —
 
Annotationen