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Kunstwart und Kulturwart — 33,2.1920

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Heft 8 (2. Januarheft 1920)
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Avenarius, Ferdinand: Soziale Kultur
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Erdmann, Karl Otto: Schul-Utopien
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https://doi.org/10.11588/diglit.14431#0063

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<^>ieser Tage las ich ein wundersam reiches Wort von Theodor Mommsen:
^„Edlere Gemüter verschmähen es, ohne die Nation sich selber zu bergen,
und große Aaturen genießen das Vorrecht, aus dem, worüber die Menge
der Guten verzweifelt, Begeisternng zu schöpfen." Ein Wort, das ich
mehr als tansend tagtäglich abgegriffene als geflügeltes Wort unsrer Bil--
dung wünschte. Wer jetzt in ein „besseres" Ausland flüchten will, mag
das tun, wenn er's verantworten kann — so lange er aber Kraft und einen
Platz sür den hebel hat, ihn anzufetzen, gehört er anderswo oder daheim
ans Werk für die Wiederaufrichtung seines Volkes. Sind es aber
uur „große" Naturen, die imstande sind, „aus dem, worüber die Menge
der Guten verzweifelt, Begeisterung zu »schöpfen«?" Mir scheint, es ge--
hört nur Einsicht und Opferwilligkeit auch gegenüber eigenen Lieblings-
wünschen dazu, falls der nüchterne Verstand die Lieblingswünsche als un-
erfüllbar zum mindeften ohne fchweren SchaLen der Allgemeinheit erkennt.
Die Volkswirtschaft mit dem Geistgut darf nicht länger mehr kapitalistisch
betrieben werden, als zum Abbau notwendig ist, hier alfo vom kapitalistischen
Kulturbetrieb zum sozialistischen! Ist der Aufbau eines sozialen Kultur-
betriebes keine Aufgabe, die zu begeistern vermag? A

Schul-Lltopien

ie Reform der Gymnasien und der anderen höheren Schulen ist sicher--
I lich eine dringliche Angelegenheit. Unzweiselhaft kann und muß viel

verbessert und den heutigen Bedürfnissen angepaßt werden. Aber man
kann diese Ansicht aufrichtig teilen und sich doch nicht der Einsicht verschließen,
daß viele Hoffnungen, die fich an bloße Reformen knüpfen, nicht erfüllbar
sind; ,n,d daß die Kritik, wie sie an den heutigen Zuständen geübt wird,
vielfach unbillig ist. Denn die so lebhaft gerügten Mängel find zwar vor-
handen, aber fie fallen zum großen Teil gar nicht der heutigen Organisation
Zur Last, sondern liegen im Wesen der Schule. Und oft läßt sich eine Un-
vollkommenheit nur durch eine andere beseitigen.

Iede Schule ist eine sehr fragwürdige und mangelhafte Bildungsstätte:
sie kann nur Massenerziehung und Massenunterricht geben, während
Unterricht und Erziehung so individuell wie möglich fein sollten. Da man
nicht jedem jungen Menschen einen eigenen Pädagogen zuteilen kann, ist
uiid bleibt sie nur ein Notbehels und ein unentbehrliches Äbel.

Man versetze sich in eine normale Klasse von dreißig oder mehr Schülern.
Nur wenige werden hervorragend tüchtig fein, die übrigen sind Mittelschlag
nnd einige darunter sind minderwertig. Dazu kommt noch die Verschieden-
artigkeit der Begabungen und der Interessen: der eine denkt klar und scharf,
aber seine Phantasie ist dürr; der andere hat eine lebhafte Einbildungskrast,
aber es hapert mit der Logik. Ilnd welcher Leser erinnert sich nicht an einstige
Mitschüler, die wohl ein vorzügliches Sprachtalent zeigten, aber in Mathe-
matik vernagelt waren, oder an folche, die sich für Literatur und Geschichte
begeisterten, aber für chemische Formeln weder Verständnis noch Interesse
aufbringen konnten. Und diefe ganz verfchiedenartigen, zufällig zusammen-
gewürfelten Elemente sollen gleichzeitig unterrichtet, gefesselt und ge°
fördert werden! Auch wenn der Lehrer ein pädagogifches Genie ist, kann
die Art, wie er den Stoff darbietet, und das Tempo, das er einschlägt, nur
für eine Schülergruppe pasfen; für die anderen sind sie geradezu nachteilig.
Dieser Mißstand kann durch Einrichtung besonderer Klassen für Hochbefähigte,
dnrch Sonderung der Schüler nach Begabungstypen, durch eine Gabelung

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