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Kunstwart und Kulturwart — 33,2.1920

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Heft 11 (1. Märzheft 1920)
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Avenarius, Ferdinand: Dämmert es? Nachtet es?
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Um den Sozialismus 4
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https://doi.org/10.11588/diglit.14431#0212

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tst sehr wohl mögltch, daß infolge des Wahnsinn--Friedens der Entente
unser Kontinent wiederum in Flammen gerät, und vielleicht Asien und
Nord--Afrika dazu. Wer sollte heut wagen wollen, die Rechnung mit
wieviel unbekannten Größen auch nur aufzustellen, geschweige denn: aus
ihr das Fazit zu ziehnl

Die Gebote in solcher Stunde für jeden von uns, für unsre Gesamtheit
umschreibt ein Wort: wir müssen uns stärken. „Bereit sein ist alles!"
Wir müssen arbeiten, arbeiten, arbeiten. Und organisieren, daß der rechte
Gedanke die Arme bewegen kann. Aber damtt ist's auch noch nicht getan.
Wir müssen mit dem Z us am mensch li eß en Ernst machen, von dem
wir bis jetzt bei allen Parteien nur reden. Iede Verhetzung und
Verketzerung untereinander, alles, was uns unteretnander bündnis--
unfähig machen kann, ist jetzt schlechterdings Verbrechen. Keiner bestreitet
das, aber wer richtet sich danach? Iede Würdelosigkeit gegenüber
den Fremden wie gegenüber uns selbst wirft ein Stück von dem weg, was
wir am allerwenigsten jetzt entbehren können, wo es das Stärkste ist, was
uns heben kann. Nnd jede Nnbesonnenheit kann uns zum Ver-
hängnis werden. Sind wir aber rechte Männer und rechte Frauen, und
ist jeder von uns mit seinem ernstesten Willen und seiner besten Kraft
an der Arbeit, so dürfen wir Hoffen, daß wir bestehen. Daß sich die geistige
Derfassung der Deutschen in den letzten Monaten gebessert hat, das wenig--
stens scheint uns unverkennbar. Wir haben die Möglichkeit, wieder vor»
wärts und aufwärts zu kommen, trotz alledem. A

Llm den Sozialismus 4*

^^v^-ir haben in früheren Aussätzen die Quellen des Sozialismus zu
G Mzeigen versucht- wir haben bestimmt, was alles unter Sozialismus
zu verstehen sei; wir haben die jüngste geschichtlich-organisatorische
Anerkennung des Sozialismus dargestellt. Gesinnung, Kritik, Lehre, Be-
wegung bestimmter Art begreifen wir unter dem Wort Sozialismus. Von
diesen Elementen ist die Gesinnung am weitesten verbreitet, weit über die
Kreise der erklärten oder organisierten Sozialisten hinaus; aber wie alle
moderne Gesinnung ist sie in zahllosen Fällen schwach, untief, in Schach
gehalten durch entgegenwirkende Äberlegungen und Gesinnungfragmente.
Die sozialistische Kritik an der menschlichen Lebensordnung ist hochentwickelt,
bildet einen bedeutenden Teil aller Gesellschaftkritik, hat die Gesellschaft--
wissenschaft kraftvoll befruchtet, hat in Marx und anderen Vertreter von
höchstem Rang gehabt. Doch ist sie unseren Gebildeten kaum bekannt, der
großen Masse der sozialistisch Gesinnten dagegen zwar bekannt, aber
nicht zum klaren Geistbesitz geworden, wie denn Vertrautheit mit den Pro--
blemen der Lebensordnung kein Ziel der bisherigen Volksbildung war;
und die wenigen populären Auszüge aus dem gewaltigen Gesamtwerk
der sozialistischen Gesellschaftkritik sind vielleicht weit verbreitet, haben
aber dafür auf die breitere und tiefere Fafsung der Gedanken, auf die Fülle
des Denkstoffes verzichtet. Dazu hat auch die Verengung des Problems der
Lebensordnung auf das Problem der „Wirtschaft", wie Marx und Engels
sie erzwungen haben, beigetragen. Davon später. Aberdies sind gerade
einige Irrtümer der sozialistlschen Gesellschaftkritik am ehesten noch als
„Gemeinbesitz" der Sozialisten zu bezeichnen.

* Vgl. die Aufsätze „Äm 'den Sozialismus" j—5 Kw. XXXII, 8, 16, 20.
 
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