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Kunstwart und Kulturwart — 33,2.1920

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Heft 9 (1. Februarheft 1920)
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Vom Heute fürs Morgen
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https://doi.org/10.11588/diglit.14431#0138

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Die Originalquellen versagcn für die
Gewinnung eines eindringenden und
sympathischen Verständnisses zunächst
auch hier. Das Lesen einer sozialdemo-
kratischen Zeitung zum Beispiel setzt
bereits selbst ein recht gutwilbges Ver-
ständnis voraus. Zur Einführung in
die sozialistische Begrifsswelt ist immer
noch des alten Schäffle „Qnintessenz
des Sozialismns" ein guter Wegräu-
mer von allerlei Begrifssstutzigkeiten.
Auch Bellamy wird manchen (nicht
jeden!) williger machen, zuzuhören.
Manche wird der „Sozialismus" Wil-
brands besonders packen, weil der Ver-
fasser als Sohn eines sehr patriotischen
Vaters gerade vom Patriotismus aus
den Weg zum Sozialismns gegangen
ist. Das eigentlich Nötige ist aber auch
hier wie in unserm ägyptischen Bei-
spiel: das Leben dieses unter uns woh-
nenden und doch so fernen Voltes sym-
pathisch kennen zn lernen, um mit seinen
Augen sehen zu können. Am besten ist
es vielleicht, sich von einem so einge-
weihten und dabei so darstellungsträf-
tigen Führer, wie es Martin Andersen
Nexö in seinem „Pelle der Lroberer"
ist, in das Arbeiterwerden und -emp-
finden einführen zu lassen. Aexö ist
selbst Arbeiter, doch zugleich im Voll-
besitz der Darstellungsmittel guter alter
Kultnr. (Mehr als unser deutscher
Bröger, dessen „Held im Schatten"
doch auch vielen etwas sein wird.) Hat
man an seiner Hand sich eingefühlt,
so mag man dann auch unmittelbare
Selbstbiographien moderner Arbeiter
vornehmen, wie die von Paul Göhre
veröffentlichten, die Denkwürdigkeiten
des noch vorsozialistischen Arbeiters
Fischer und der andern der Reihe,
Bromme, Holek, Rehbein. Man wird
es auch unter künstlerischem Gesichts-
punkt nicht bereuen, das mächtige Epos
der Arbeit, das dieses Fünfbändewerk
darstellt, genossen zu haben. Wie ein
großer und schlechthin unwiderstehlicher
Strom zieht darin das Leid des ar-
beitenden Standes an uns vorüber.
Das hoffnungslose Unterworsensein, die
Angst, herunterzukommen, die Ver-
zweiflung der Arbeitslosigkeit, die auf-
glimmende Hoffnung auf Erlösung, der
Kampf, die Vergewaltigung dessen, der
für seine Äberzeugung eintritt. Es gibt
Stellen, an denen man sich an Ver-

folgungen religiöser Zeiten erinnert
fühlt, etwa erster reformierter Wan-
derprediger. Ium Beispiel da, wo Ho-
lek erzählt, was für Verstecke er nnd
seine Freunde erdacht haben, um ihre
Bücher bei Haussuchungen vor den
Augen der Polizei zu hüten. Eine
starke Einheit der Stimmung und in
der Hauptsache doch auch der Darstel-
lungsweise hält diese Lebensläufe zu-
sammen. Wird auch die künstlerische
Höhe der ersten beiden, der Fischerschen
Bände von den folgenden nicht wieder
erreicht, so sehen doch anch sie, beson-
ders Holek, sehr gut und erzählen das
gut Gesehene schlicht und so plastisch,
daß man bis zum Schlusse willig bleibt.
(Schade, daß, wie es scheint, die Samm-
lung nicht fortgeseht wird.) Nur selten
und in etwas größerem Umfang eigent-
lich erst beim letzten der Reihe stört be-
ginnender Gebildetheitsstil. Aber auch
dieser letzte Darsteller entschädigt reich-
,lich durch gntgesehene Bilder und ver-
ständiges, solides Ilrteil.

Neidgefühle wird man natürlich
allen nachweisen können; auch die
oberen Stände sollen davon nicht frei
sein. Und das Elend wäre nicht so
schlimm, als es ist, wenn es die Bil-
dung einer neidfreien Gesinnung för-
derte. Man müßte dann Sozialismns
aus dem umgekehrten Grunde treiben,
als aus dem man es bisher tat, näm-
lich zu dem Zweck, die oberen Stände
nicht sittlich verwahrlosen zu lassen.
Aber es ist merkwürdig, wie einem
die Lnst zu der Anklage auf Neid
schwindet, indem man unter dieser Lek-
türe mit den Augen des Arbeiters zu
sehen beginnt.

Und immer wieder gerade dies ist
das Nötige. Erst wenn man es geübt
hat, erst wenn man auf diese Weise
begriffen hat, was dem Arbeiter der
Sozialismus in der Tat ist — eine
Erlösung, für die er gewohnt ist, größere
Opfer zu bringen, als das Bürgertum
für seine Begeisterungen — erst dann
mag man erwägen, ob nun dieser Meg
der rechte ist, oder ob man einen bes-
seren weiß. Oder durch welche Mittel
sonst die diesen Weg Wandernden den-
noch mit Freude am gemeinsamen Va-
terland erfüllt und an seinem Wohl-
ergehen innerlich beteiligt werden könn-
ten. Bonus
 
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