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Deutscher Altphilologenverband [Hrsg.]
Mitteilungsblatt des Deutschen Altphilologenverbandes — 13.1970

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Nr. 2/3
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Richter, Wilfried: Über die Tugend des radikalen Zweifels
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https://doi.org/10.11588/diglit.33063#0025

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Über die Tugend des radikalen Zweifels
(Entnommen FAZ 7. 3. 70 Nr. 56, S. 33)

Das Auffallendste ist vielleicht dies: Der durchschnittliche Student fühlt sich
heute durchaus nicht besser imstande, selbständig zu studieren, sondern eher
weniger als früher. Mindestens ist es eine Tatsache, daß die schleichende Ver-
schulung des Hochschulstudiums nicht auf Anregungen der Hochschullehrer,
sondern auf energische Forderungen der Studierenden zurückgeht. Sie fordern
Klausurenkurse und fortlaufende Leistungsbewertungen, Zwischenprüfungen und
spezifische Examensvorbereitung, ja sogar langsamen Ersatz der Abschlußprü-
fungen durch ein langfristiges System von „Fortgangsnoten“ aus den besuchten
Lehrveranstaltungen. Die Studienhilfen sollen nicht nur angeboten, sondern
durch Einbau in ein festes System ihre Inanspruchnahme obligatorisch und kon-
trollierbar gemacht werden. Das sind zwar extreme Vorstellungen, und viele
Studenten würden ein solches Maß von Gängelung weit von sich weisen, wenn
es von oben her verordnet würde (so etwa jetzt an der FU Berlin). Aber die
allgemeine Tendenz zur direkten Studienlenkung hin besteht.
Unsere Studenten bringen heute ein verändertes, aber sehr schwer zu be-
schreibendes Verhältnis zur Welt des Faktischen mit: schwer zu beschreiben des-
halb, weil es nicht mit logischen Maßstäben erfaßbar ist. Auf der einen Seite hat
das, was man facta bruta nennt, eine bemerkenswerte Aufwertung erfahren.
Es liegt im Stilwandel der wissenschaftlichen Arbeit begründet, den von Per-
sonen ausgehenden, von ihnen verfochtenen, ihr Denken und manchmal auch
ihr Wollen widerspiegelnden Deutungen (Theorien, Hypothesen, Synthesen sog.
allgemeinen Erkenntnissen) mit zunehmender Skepsis zu begegnen und statt
dessen zunächst einmal Vorlage von beweisbaren, belegbaren und frei verwert-
baren Tatsachen in höchstmöglicher Vollständigkeit zu fordern — systemfrei und
vor allem wertfrei. So sind in den philologisch-historischen Fächern nicht nur
der „Geist der Zeiten“, der „Volkscharakter“, die „ewigen Werte“, die sich in
Handlungen oder Schöpfungen niederschlagen, suspekt, ja sogar verpönt ge-
worden, sondern auch Versuche, das So-sein und So-handeln v-on Personen aus
ihrer Herkunft, ihren Erlebnissen oder den auf sie wirkenden Einflüssen usw.
zu erklären - gerade das also, was wir noch vor 40 Jahren als das Salz der Wis-
senschaft empfunden haben. Und es sind gerade unsere besten und kritischsten
Studenten, die in diesem Bereich zunehmend allergisch reagieren. Sie wollen
nicht Lehre und Deutung, sondern Information; Analysen sind ihnen wichtiger,
weil glaubwürdiger als Synthesen; der Wortschatz eines Dichters, sein gramma-
tikalisches Arsenal usw. findet mehr Interesse als die Frage, was ihn innerlich
bewegt haben könnte, und man wird als Philologe aufgefordert, mehr Syntax,
mehr Metrik, mehr Bibliographie zu bieten. Hier drückt sich etwas von dem
aus, was als „kritisches Bewußtsein“ zum Leitideal erhoben worden ist - gewiß
in gesunder und natürlicher Reaktion auf die Überbewertung von geistreicher
Interpretation und selbstsicherem „Verstehen“ von Gründen und Hintergrün-
den, und man wird dieses Mißtrauen gegen fremde Erkenntnisse und Urteile,
so gewichtig sie auch sein mögen, als ein Element der sachlichen Redlichkeit auch

DAV-Mitteilungsblatt 1970/2-3

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