Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Deutscher Altphilologenverband [Hrsg.]
Mitteilungsblatt des Deutschen Altphilologenverbandes — 13.1970

DOI Heft:
Nr. 4
DOI Artikel:
Behrendt, Wilhelm: Kritische Thesen zu einer "Klassischen Bildungsreise"
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.33063#0059

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Kritische Thesen zu einer „Klassischen Bildungsreise“

I. Vorbemerkungen
1. Die vorliegenden Thesen wurden anläßlich einer Exkursion des Seminars für
Klassische Philologie in Göttingen im April 1970 konzipiert. Es handelt sich
hier nicht um eine Kritik der Durchführung dieser Reise - Ziele waren Rom
mit Ostia, Veji und Caere, Tibur und Praeneste, dazu Neapel mit Pompeji,
Herculaneum und Paestum -, sondern um eine kritische Reflexion eines solchen
Unternehmens überhaupt.
2. Die Motivation der einzelnen Studenten wird respektiert und soll durch keine
didaktische Grundkonzeption vergewaltigt werden. Es scheint dennoch not-
wendig, die unterschiedlichen Motivationen dieser heterogenen Gruppe zu
analysieren und auf ihre Intentionen hm zu überprüfen.
3. Gleichzeitig unterliegt das Objekt, dem die Reise gilt, einer kritischen Betrach-
tung. Ein kritisches Bewußtsein gegenüber dem Bildungsangebot der Reise und
eine kritische Distanz zu den zu betrachtenden Gegenständen dürfte bei jedem
Teilnehmer vorausgesetzt werden.
4. Schließlich gilt es, sich
a) über den 'Wissenschaftscharakter der Studienreise,
b) über den Stellenwert der Exkursion innerhalb des Studiums,
c) über den Bildungswert der Reise nach Rom und Neapel, und
d) über den Begriff des ,Klassischen' als ideologischem Moment einige Gedan-
ken zu machen.

II. 7.ur Motivation einer Reise nach Rom und Neapel
1. Ein erstes Motiv kann die Auffassung von der Antike als dem Ursprung der
europäischen Kultur sein. Man kehrt folglich an die zentralen Bildungsstätten
des Abendlandes ,zurück', läuft damit aber Gefahr, an der Tatsache vorbeizu-
sehen, daß unsere heutige Welt und Gesellschaft pluralistisch strukturiert ist
und sich vom durch die Antike vermittelten Bildungsideal immer mehr löst.
2. Ein zweites Motiv leitet sich aus einem archäologischen Interesse her. Die Ziel-
vorstellungen müssen diesem Wissenschaftsfach entnommen werden, aber nicht
im Sinne der ästhetisierenden Betrachtung, sondern verstanden als erweitern-
des und korrigierendes Element der durch die Lektüre klassischer Autoren an-
geeigneten Vorstellungen.
3. Ein drittes und in sich recht fragwürdiges Motiv ist die optische Bestätigung
literarischer Kenntnisse einschließlich der ästhetischen Befriedigung, die in der
Begegnung mit den Ruinen einer vergangenen Welt liegen kann.
4. Ein weiteres Motiv ist die Anerkennung und Bewertung antiker Kulturgegen-
stände und Kunstwerke als aktuelle Bildungsgegenstände, die als Bildungsgut
einen Bildungswert implizieren. Will man nicht der unterschiedslos verkonsu-
mierenden Betrachtungsweise eines Touristen verfallen, ist kritische Distanz
zum Gegenstand und ein ungetrübtes Beurteilungsvermögen erforderlich.

DAV-Mitteilungsbaltt 1970/4

1
 
Annotationen