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Deutscher Altphilologenverband [Hrsg.]
Mitteilungsblatt des Deutschen Altphilologenverbandes — 38.1995

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Aktuelle Themen
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Krefeld, Heinrich: Ziele und Wege zur Überwindung der Orientierungskrise unserer Gesellschaft
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https://doi.org/10.11588/diglit.33096#0060

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schützt die Glaubens- und Gewissensfreiheit eines jeden. Berücksichtigt man allerdings die Tatsache
der offensichtlich zunehmenden Entchristlichung unserer Gesellschaft, wo-
bei wir die Unterschiede zwischen Ost und West nicht in Betracht zu ziehen brauchen, dann drängt
sich die Folgerung auf, daß in ihr, wenn man sich um einen möglichst großen Konsens bemüht,
ethische Werte und Normen, die zu den primären, den Grundwerten menschlicher Gemeinschaften
gehören, heute nicht mehr ausschließlich mit religiösen Überzeugungen begründet werden sollten.
Wie kommt man in dieser Hinsicht nun weiter? Nach dem Scheitern der antiautoritären Erziehung
und der emanzipatorischen Pädagogik, dem bekanntlich das Scheitern anderer gesellschaftspoliti-
scher Utopien schon vorausgegangen war, tut die Pädagogik, die sich in unserem Jahrhundert be-
reitwillig in die Abhängigkeit politischer Ideologien begeben hat, gut daran, sich wieder mehr an
der Wirklichkeit, das heißt für sie, an der eigentlichen Natur des Menschen zu orientieren, statt sich
etwa, worin sich viele ehemalige emanzipatorische Avantgardisten gefallen, mit zeitkritischer Atti-
tüde auf Nebenschauplätze zu begeben. Das mag dem, der ein derartiges Geschäft betreibt, durch-
aus Befriedigung verschaffen, aber er wird es sich gefallen lassen müssen, wenn man darauf hin-
weist, daß ein derartiges Verhalten dem des Phaidros im gleichnamigen Dialog Platons ähnlich ist.
Dieser ergötzte sich nämlich in einer Zeit der Aufklärung an mythologischen Erzählungen und frag-
te den Sokrates auf einem Spaziergang am llissos entlang, wo denn Boreas die Oreithyia geraubt
haben könnte. Einer derartigen Beschäftigung wolle er nicht nachgehen, antwortete jener, weil sie
viel Zeit beanspruche. Er könne sich nämlich nach dem delphischen Orakelspruch noch nicht selbst
erkennen; deshalb lasse er das auf sich beruhen. „Ich betrachte nicht diese Dinge, sondern mich
selbst, ob ich etwa ein Ungeheuer bin, verschlungener und viel ungestümer als Typhon, oder ein
milderes und einfacheres Wesen, das von Natur aus einen göttlichen und schlichten Teil besitzt."
Dies ist der Kern des sokratischen Fragens, das am Anfang der großen europäischen Bildungstradi-
tion steht und dem es um den Aufweis anthropologischer Grundbefindlichkeiten und um begründ-
bare Kriterien für sittlich verantwortbares Handeln geht. Diesem Fragen liegt ein weitaus realisti-
scheres Bild vom Menschen als etwa der emanzipatorischen Pädagogik zugrunde, die den neuen
Menschen in einer neuen, durch herrschaftsfreie Kommunikation harmonisierten Gesellschaft pro-
pagierte.
Wer diesem sokratischen Ansatz folgt, der kann unmittelbar auf den Reichtum an Lö-
sungsversuchen zum Aufbau und zur Begründung von Moralität zurückgreifen, zu dem
die antike Philosophie, das Christentum und die im Verlauf unserer Geistesgeschichte immer wieder
neu einsetzenden Auseinandersetzungen mit diesem Erbe beigetragen haben. Das möchte ich
nunmehr aufzuzeigen versuchen.
Einer der Schnittpunkte dieser Entwicklung ist das Rom der ausgehenden Repu-
blik und der frühen Kaiserzeit. In diesen zwei Jahrhunderten eines tiefgreifenden Wandels verlor
die altrömische politische und standesbezogene Rangfolge der Werte ihre Geltung. Hierzu trug das
rücksichtslose persönliche Machtstreben einzelner im Zeitalter der Bürgerkriege ebenso bei wie die
stoische Lehre von der gemeinsamen Natur aller Menschen, die das allgemeine Bewußtsein auch in
Rom langsam zu verändern begann. Je mehr sie sich durchsetzte, desto fragwürdiger wurde das
Festhalten am alten standesbezogenen Freiheitsbegriff.
Ihr Ansatz, der zur Unterwanderung alter institutioneller Ordnungen und deren Begründungen
führte, war ein philosophisch-anthropologischer. Nach stoischer Auffassung hat nämlich jeder
Mensch durch seine Geistseele Anteil an dem göttlichen Geist, der den Kosmos beseelt und der sich
ebenso in einen römischen Ritter wie in einen Freigelassenen wie in einen Sklaven hinabsenken
kann. Also entsprechen die Klassifizierungen einer ständisch geschiedenen Gesellschaft nicht der
Natur des Menschen. Ferner sei der Sklave auch deshalb als ein Mitmensch zu betrachten, weil

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