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Dürer, Albrecht; Rupprich, Hans [Hrsg.]
Schriftlicher Nachlaß (Band 2): Die Anfänge der theoretischen Studien ; das Lehrbuch der Malerei: von der Maß der Menschen, der Pferde, der Gebäude ; von der Perspektive ; von Farben ; ein Unterricht alle Maß zu ändern — Berlin, 1966

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https://doi.org/10.11588/diglit.29732#0079

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D. STUDIEN 2UR PERSPEKTIVE

Unmittelbar vor Dürers Abreise nach Italien war auch ein Lehrbuch der Perspektive in Druck erschienen:
von Jean Pelerin gen. Viator 1445, t um J524) „De artificiali perspectiva“ (Toul, 23. 6. 1505). Ob
Dürer diese Ausgabe gekannt hat, wissen wir nicht. Wahrscheinlich ist es, daß er die spätere Ausgabe Toul,
12. 3. 1509, welche auf Blatt Ci die Räumlichkeit bzw. Säulenstellung seines Holzschnittes der Darstellung
im Tempel (T 278) sowie auf Tafel C g die Figurenanordnung des Gemäldes der „Marter der Zehntausend“
von 1308 als Musterbeispiele aufnahm, und die deutsche Ausgabe dieser Perspectiva artificialis durch
J. Glockendon, Nürnberg 1509 (ohne die beiden Tafeln), eingesehen hat.4

Schon vor seinen Bemühungen um die Proportion des Menschen hatte Dürer sich mit den Fragen der
Perspektive befaßt. Zunächst waren es ihre praktisch bildnerischen Regeln, die ihn interessierten. Diese
praktische Perspectiva pingendi hatte sich, ohne daß die Maler um eine theoretische Begründung gewußt
hätten, durch die Befolgung einmal gefundener und weitergegebener Regeln zu ausreichender Richtigkeit
und hoher Korrektheit entwickelt. Hauptsache war ihr, eine brauchbare geometrische Konstruktion zu
haben und mit deren Hilfe die zeichnerische Darstellung von räumlichen Gebilden und Gegenständen aller
drei Dimensionen auf einer Zeichen- oder Malfläche ausführen zu können.

Die frühest nachweisbare Perspektiva artificialis Dürers findet sich in der um 1494/95 anzusetzenden
Albertina-Passion auf dem Blatt der „Geißelung“, „wo zwei Gewölbe von einer Säule gestützt und das
Ganze nach einer bereits sicher beobachteten Perspektivkonstruktion angelegt wurde. Der lockere Augen-
punkt ruht, wie die Nachzeichnung ersichtlich macht, auf dem linken Oberarm Christi und versucht, alle
Strahlen von Decke und Wand in sich aufzunehmen“5.

Zur gleichen Zeit, um 1500, als Dürer in theoretischen Studien und Versuchen die Maße des idealschönen
Menschen im Anschluß an Vitruv ermitteln wollte, betrieb er mit höchstem Eifer das perspektivische Zeich-
nen und Entwerfen. Er war zu der Erkenntnis gekommen, daß erst die geometrische Konstruktion räum-
licher und körperlicher Gebilde Kunst ermögliche. Leider sind wir über Dürers perspektivische Experimente
nicht annähernd so gut unterrichtet wie über seine neue Art der Aktdarstellung. Das erhaltene Studien-
material besonders der Frühzeit ist viel geringer.

Zur Aneignung der für eine theoretische Deduktion nötigen mathematischen Vorkenntnisse, wie sie die
spätmittelalterliche Optik als Perspectiva naturalis oder communis lehrte, fehlte es Dürer in Nürnberg
weder an Schriftwerken noch an helfenden Beratern. Allein in der Bibliothek Regiomontan-Walthers be-
fanden sich: die Optik und Spiegellehre des Euklid (in verschiedenen Handschriffen, Übersetzungen und
Kommentierungen), die Optik des Alhacen (Ibn al-Haitham), die Optik des Witelo, die Optik und Spiegel-
lehre des Roger Bacon, die Perspectiva communis des Johannes Pisanus, die Perspectiva communis des
Cardanus Facius, eine Perspectiva valde bona6. Von den deutschen mathematischen Zeitgenossen ver-
öffentlichte der K. Celtis nahestehende Andreas Stiborius (gest. 1515) gemeinsam mit Georg Tannstetter
(1482-1535) ein Lehrbuch der Optik „Libellus Linconiensis de physicis lineis, angulis et figuris“ (Nürn-
berg, J. Weissenburger, 4. 8. 1503), dessen Titelholzschnitt (Brechung und Spiegelung der Sehstrahlen,
„radius fractus“ und „radius reflexus“) dem um 1505 in Dürers Werkstatt tätigen Wolf Traut zugeschrie-
ben wird. Zu den Handschriften und Druckwerken kam die Möglichkeit, sich bei Bernhard Walther, Jo-

Vgl. Schlosser, Die Kunstliteratur, S. 226 ff.; Flechsig, S. 453 ff; M. Sondheim, Berichte des Freien Deutschen Ffoch-
stiftes zu Frankfurt a. M. NF VIII (1892), S. 195 ff.

5 Vgl. J. Meder, aaO, S. 34 u. 118 f.

6 Vgl. H. Petz, Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 7 (1888), S. 2.47 ff.; E. Zinner, Leben
und Wirken des Johannes Müller von Königsberg genannt Regiomontanus, S. 211 ff.

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