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Dürer, Albrecht; Rupprich, Hans [Hrsg.]
Schriftlicher Nachlaß (Band 2): Die Anfänge der theoretischen Studien ; das Lehrbuch der Malerei: von der Maß der Menschen, der Pferde, der Gebäude ; von der Perspektive ; von Farben ; ein Unterricht alle Maß zu ändern — Berlin, 1966

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https://doi.org/10.11588/diglit.29732#0344

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II. DAS LEHRBUCH DER MALEREI

4. DIE PROPORTION DES KINDES

Die an den Maler jener Zeit immer wieder herantretende Notwendigkeit der Darstellung des Jesusknaben,
der Darstellung von Engelsfiguren und Putten verlangte für ein Lehrbuch der Malerei in dem Teil, der
über die Proportion des Menschen handelt, auch die Konstruktion des Kinderkörpers.

Im Bildwerk Dürers erscheint der selbständige Kinderkörper 1495 mit den beiden Zeichnungen W 83 „Tan-
zende Kinder" und W 84 „Liegender Christusknabe“. Die erstere ist nach einem unbekannten italienischen
Vorbild gezeichnet, die zweite nach Lorenzo Credi.

Ihnen folgten zunächst 1500/01 die Puttenkörper auf den Kupferstichen der sogenannten Hexe (T 179)
und der drei Genien (T 180), dann 1506 eine ganze Reihe originaler Engel- und Kinderköpfe (W 386, 387,
393—400)1? der Christusknabe W 388, als Vorarbeiten für das Rosenkranzfest, die z. T. später auch beim
Helleraltar Verwendung fanden, und der Christusknabe W 408 als Studie für die Zeisigmadonna. Die
Reihe führt über W 616, 619, 665 (alle 1514), WIII Taf. VII (1519), W 836, 862/64, 865/69 bis zu jenem
merkwürdigen Bild aus dem Jahre 1527, das den Kopf eines Kindes mit langem Bart darstellt (T978) und
von Tietze als „Paedogeron“ = „Kindgreis“ nach Plutarchs De Isi et Osiri gedeutet wurde.

Der erste innerhalb der Geschichte der Proportionstheorie bekannte Kanon eines Kinderkörpers und zu-
gleich früheste Moduluskanon erscheint bei dem arabischen Gelehrten-Orden der „Lautern Brüder“ im
9./10. Jahrhundert2. Seine Proportionsangaben waren nicht für die künstlerische Praxis des Malers oder
Bildhauers bestimmt, sondern bilden „das Teilstück einer harmonistischen Kosmologie3“. Gegeben ist der
Kanon eines neugeborenen Kindes, bei dem die Spanne der Hand als Maßeinheit dient. Die Körperein-
teilungen scheinen von der griechischen Antike abhängig. Nicht, weil ich glaube, daß Dürer von diesem
Kanon beeinflußt wäre, sondern der Singularität des Falles wegen sollen seine Maße hier vermerkt werden.
Das Kapitel der Abhandlung über die Musik, in dem der Kanon steht, handelt „Über den Ursprung der
Buchstaben und ihre Zusammenfügung, ihre Größe und Verhältnisse“. Dabei wird auch über die Form des
Menschen und den Bau seines Körpers, besonders iiber die Verhältnisse verschiedener Körperteile zueinan-
der einiges ausgeführt. Dann aber heißt es: „Bei dem gesund gebauten und vollständig ausgebildeten Kinde
ist die Länge des Wuchses gerade 8 seiner Spannen groß, gerade 2 Spannen von der Spitze der beiden
Knien bis zur untersten Sohle, 2 Spannen von der Spitze der beiden Knie bis zur Taille, 2 Spannen von der
Taille bis zur Spitze seiner Brust und von der Spitze der Brust bis zum Scheitel des Kopfes 2 Spannen.
öffnet man seine beiden Hände und dehnt man sie nach rechts und links, so wie der Vogel seine Fittiche
öffnet, so findet man, daß die Entfernung von den Fingerspitzen der linken Hand bis zu denen der rechten
8 Spannen ist. Die Hälfte davon beim Kehlkopf, das Vierteil beim Ellenbogen. Streckt man die beiden
Hände über den Kopf nach oben und setzt man die Spitze des Zirkels auf seinen Nabel, spannt man dann
denselben bis zu den Fingerspitzen der Hand und schlägt man denselben um bis zu den Zehenspitzen, sind
es gerade 10 Spannen, 4 mehr als die Länge des Wuchses. Die Länge des Gesichts ist von der Spitze des
Kinns bis zum Sproßort der Haare über dem Stirnknochen 1V4 Spanne. Zwischen den beiden Ohren ist
die Entfernung 1V4 Spanne; die Länge der Nase V4 Spanne; der Schlitz eines jeden der beiden Augen
V8 Spanne; die Länge der Stirne V3 von der Länge des Gesichts, der Schlitz des Mundes und der beiden
Lippen ist jedes = der Nase, die Länge von jeder Sohle 1V4 Spanne. Die Hand ist von der Spitze der

1 Da die Künstler sich mit Kindermodellen schwer taten, behalfen sie sich häufig mit antiken und zeitgenössischen
Skulpturen, kleinen Gipsabgüssen oder Wachsmodellen. Nach Meder, Die Handzeichnung, S. 402 und 432, bediente
Dürer sich derartiger Muster 1506 in Venedig bei den schwarz abgedeckten „Drei Kinderköpfen“ (W 387) und noch
1521 bei den „Weinenden Engelknaben“ (W 862 und 864).

2 Mitgeteilt von F. Dieterici, Die Propaedeutik der Araber im zehnten Jahrhundert (Leipzig 1865), S. 135 ff.

3 Vgl. Panofsky, Monatshefte für Kunstwissenschaft 14 (1921), S. 201 f.

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