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Laokoon
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Der Ausdruck einer so grossen Seele gehet weit über die Bildung der schönen Natur: Der Künstler
muste die Stärcke des Geistes in sich selbst fühlen, welche er seinem Marmor einprägete. Griechenland
hatte Künstler und Weltweisen in einer Person, und mehr als einen Metrodor. Die Weisheit reichte der
Kunst die Hand, und bließ den Figuren derselben mehr als gemeine Seelen ein.
Unter einem Gewände, welches der Künstler dem Laocoon als einem Priester hätte geben sol-
len, würde uns sein Schmertz nur halb so sinnlich gewesen seyn. Bernini hat so gar den Anfang der
Würckung des Gifts der Schlange in dem einen Schenckel des Laocoons an der Erstarrung desselben
entdecken wollen.
Alle Handlungen und Stellungen der Griechischen Figuren, die mit diesem Character der Weißheit
nicht bezeichnet, sondern gar zu feurig und zu wild waren, verfielen in einen Fehler, den die alten
Künstler PARENTHYRSIS nannten.
Je ruhiger der Stand des Körpers ist, desto geschickter ist er, den wahren Character der Seele zu
schildern: in allen Stellungen, die von dem Stand der Ruhe zu sehr abweichen, befindet sich die Seele
nicht in dem Zustand, der ihr der eigentlichste ist, sondern in einem gewaltsamen und erzwungenen
Zustand. Kentlicher und bezeichnender wird die Seele in heftigen Leidenschaften; groß aber und edel ist
sie in dem Stand der Einheit, in dem Stand der Ruhe. Im Laocoon würde der Schmertz, allein gebildet,
Parenthyrsis gewesen seyn; der Künstler gab ihm daher, um das Bezeichnende und das Edle der Seele in
eins zu vereinigen, eine Action, die dem Stand der Ruhe in solchem Schmertz der nächste war. Aber in
dieser Ruhe muß die Seele durch Züge, die ihr und keiner andern Seele eigen sind, bezeichnet werden,
um sie ruhig, aber zugleich wircksam, stille, aber nicht gleichgültig oder schläfrig zu bilden.
Entwurf der Laokoon-Beschreibung im Nachlaß Florenz p. 7/186—9,184
Laocoon. Über diese Statue sind vile Zweifel, ob sie die wahre berühmte Statue von Laocoon sey, von 486
der Plinius saget. Gewiß ist daß sie wunderschön. Ich zweifle daß man dieselbe schöner machen könnte.
Diese Statue ist wirklich von Griechischem Gusto, die Gewänder, das Haar und der gantze Character
der Figur scheinet von der guten Griechischen Zeit. Der Ausdruck (Expression) des Laocoon des Vaters
ist sehr schön. Er scheinet gebildet als wenn er den Äthern gleichsam an sich hielte, oder schöpftet.]
<Man siehet> und zu gleicher Zeit sich suchte von der Schlange loß zu machen. Es ist wahr, daß diese
Statue auf andere Weise hätte können gebildet werden, so vielleicht fast mehr Expression nach der heu-
tigen Weise haben könnte, aber die Alten haben allezeit gesucht die schönsten Theile zu weisen und die
Expression auf zartere und weniger schreckliche Art als wir zu zeigen. Man siebet in dieser gantzen Figur
von der Zehe bis auf die Schulter und im Gesicht die Angst und Wallung in dem Cörper. Die Sehnen der
Muskeln scheinen starr und angezogen, die Muskeln schwülstig und die Adern erhitzt. Diese Expression
zeigt so deutlich die Historie des Laocoon an, daß [es] unmöglich wäre diese besser zu exprimiren. Aber
die Schönheit der gantzen Figur ist dadurch nicht verdorben, sondern vermehret.
30 hielte > zöge > Text
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Laokoon
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Der Ausdruck einer so grossen Seele gehet weit über die Bildung der schönen Natur: Der Künstler
muste die Stärcke des Geistes in sich selbst fühlen, welche er seinem Marmor einprägete. Griechenland
hatte Künstler und Weltweisen in einer Person, und mehr als einen Metrodor. Die Weisheit reichte der
Kunst die Hand, und bließ den Figuren derselben mehr als gemeine Seelen ein.
Unter einem Gewände, welches der Künstler dem Laocoon als einem Priester hätte geben sol-
len, würde uns sein Schmertz nur halb so sinnlich gewesen seyn. Bernini hat so gar den Anfang der
Würckung des Gifts der Schlange in dem einen Schenckel des Laocoons an der Erstarrung desselben
entdecken wollen.
Alle Handlungen und Stellungen der Griechischen Figuren, die mit diesem Character der Weißheit
nicht bezeichnet, sondern gar zu feurig und zu wild waren, verfielen in einen Fehler, den die alten
Künstler PARENTHYRSIS nannten.
Je ruhiger der Stand des Körpers ist, desto geschickter ist er, den wahren Character der Seele zu
schildern: in allen Stellungen, die von dem Stand der Ruhe zu sehr abweichen, befindet sich die Seele
nicht in dem Zustand, der ihr der eigentlichste ist, sondern in einem gewaltsamen und erzwungenen
Zustand. Kentlicher und bezeichnender wird die Seele in heftigen Leidenschaften; groß aber und edel ist
sie in dem Stand der Einheit, in dem Stand der Ruhe. Im Laocoon würde der Schmertz, allein gebildet,
Parenthyrsis gewesen seyn; der Künstler gab ihm daher, um das Bezeichnende und das Edle der Seele in
eins zu vereinigen, eine Action, die dem Stand der Ruhe in solchem Schmertz der nächste war. Aber in
dieser Ruhe muß die Seele durch Züge, die ihr und keiner andern Seele eigen sind, bezeichnet werden,
um sie ruhig, aber zugleich wircksam, stille, aber nicht gleichgültig oder schläfrig zu bilden.
Entwurf der Laokoon-Beschreibung im Nachlaß Florenz p. 7/186—9,184
Laocoon. Über diese Statue sind vile Zweifel, ob sie die wahre berühmte Statue von Laocoon sey, von 486
der Plinius saget. Gewiß ist daß sie wunderschön. Ich zweifle daß man dieselbe schöner machen könnte.
Diese Statue ist wirklich von Griechischem Gusto, die Gewänder, das Haar und der gantze Character
der Figur scheinet von der guten Griechischen Zeit. Der Ausdruck (Expression) des Laocoon des Vaters
ist sehr schön. Er scheinet gebildet als wenn er den Äthern gleichsam an sich hielte, oder schöpftet.]
<Man siehet> und zu gleicher Zeit sich suchte von der Schlange loß zu machen. Es ist wahr, daß diese
Statue auf andere Weise hätte können gebildet werden, so vielleicht fast mehr Expression nach der heu-
tigen Weise haben könnte, aber die Alten haben allezeit gesucht die schönsten Theile zu weisen und die
Expression auf zartere und weniger schreckliche Art als wir zu zeigen. Man siebet in dieser gantzen Figur
von der Zehe bis auf die Schulter und im Gesicht die Angst und Wallung in dem Cörper. Die Sehnen der
Muskeln scheinen starr und angezogen, die Muskeln schwülstig und die Adern erhitzt. Diese Expression
zeigt so deutlich die Historie des Laocoon an, daß [es] unmöglich wäre diese besser zu exprimiren. Aber
die Schönheit der gantzen Figur ist dadurch nicht verdorben, sondern vermehret.
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