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Laokoon
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Seiten hohl, welches uns gleichsam von der Bewegung seiner Eingeweide urtheilen läßt. Sein eigenes
Leiden aber scheint ihn weniger zu beängstigen, als die Pein seiner Kinder, die ihr Angesicht zu ihrem
Vater wenden, und um Hülfe schreyen: denn das väterliche Herz offenbaret sich in den wehmüthigen
Augen, und das Mitleiden scheint in einem trüben Dufte auf denselben zu schwimmen. Sein Gesicht ist
klagend, aber nicht schreyend, seine Augen sind nach der höhern Hülfe gewandt. Der Mund ist voll von
Wehmuth, und die gesenkte Unterlippe schwer von derselben; in der überwerts gezogenen Oberlippe
aber ist dieselbe mit Schmerz [349] vermischet, welcher mit einer Regung von Unmuth, wie über ein
unverdientes unwürdiges Leiden, in die Nase hinauftritt, dieselbe schwülstig macht, und sich in den
erweiterten und aufwerts gezogenen Nüssen offenbaret. Unter der Stirn ist der Streit zwischen Schmerz
und Widerstand, wie in einem Punkte vereiniget, mit großer Weisheit gebildet: denn indem der Schmerz
die Augenbranen in die Höhe treibet, so drücket das Sträuben wider denselben das obere Augenfleisch
niederwerts, und gegen das obere Augenlied zu, so daß dasselbe durch das übergetretene Fleisch beynahe
ganz bedeckt wird. Die Natur, welche der Künstler nicht verschönern konnte, hat er ausgewickelter,
angestrengeter und mächtiger zu zeigen gesuchet: da, wohin der größte Schmerz geleget ist, zeiget sich
auch die größte Schönheit. Die linke Seite, in welche die Schlange mit dem wütenden Bisse ihren Gift
ausgießet, ist diejenige, welche durch die nächste Empfindung zum Herzen am heftigsten zu leiden
scheint, und dieser Theil des Körpers kann ein Wunder der Kunst genennet werden. Seine Beine wollen
sich erheben, um seinem Uebel zu entrinnen; kein Theil ist in Ruhe: ja die Meißelstreiche selbst helfen
zur Bedeutung einer erstarreten Haut1.
Es haben einige wider dieses Werk Zweifel aufgeworfen, und, weil es nicht aus einem einzigen 486. 217
Stücke besteht, welches Plinius von dem Laocoon in den Bädern des Titus versichert, sondern aus zwey
Stücken zusammengesetzet ist, will man behaupten, es sey der gegenwärtige Laocoon nicht der alte so
berühmte. Pirro Ligorio ist einer von denselben, und er will aus Stücken von Füßen und Schlangen, 489
die größer, als die Na[350]tur, waren, und sich zu dessen Zeit fanden, glauben machen, der wahre alte
Laocoon sey viel größer, als der itzige, gewesen, und dieses vorausgesetzet, will er angezeigte Stücke viel
schöner, als die Statue im Belvedere, gefunden haben: dieses schreibt derselbe in seinen Handschriften
in der Vaticanischen Bibliothek. Den unerheblichen Zweifel über die zwey Stücke haben auch andere
angeführet, ohne zu bedenken, daß die Fuge ehemals nicht, wie itzo, sichtbar gewesen seyn wird. Das
Vorgeben des Ligorio aber ist nur zu merken wegen eines zerstümmelten Kopfs über Lebensgröße unter 488
den Trümmern hinter dem Farnesischen Paliaste, an welchem man noch eine Aehnlichkeit mit dem
Kopfe des Laocoons bemerket, und der vielleicht zu den obigen Füßen und Schlangen gehöret; itzo
ist dieser zerstümmelte Kopf, nebst andern Trümmern, nach Neapel geführet worden. Ich kann nicht
unangemerket lassen, daß sich zu St. Ildefonse, dem Lustschlosse des Königs in Spanien, ein erhoben
gearbeitetes Werk findet, welches den Laocoon, nebst seinen beyden Söhnen, vorstellet, über welche 859
ein fliegender Cupido schwebet, als wenn er ihnen zu Hülfe kommen wollte.
1 Ich habe in einer beglaubten schriftlichen Nachricht gefunden, daß Pabst Julius II. dem Felix von Fredis, welcher den Laocoon
in den Bädern des Titus entdeckete, ihm und seinen Söhnen zur Belohnung introitus et portionem gabellae Portae S. lohannis
Lateranensis verliehen habe. Leo X. aber gab diese Einkünfte an die Kirche von St. Johann Lateran zurück, und jenem an
deren Stelle Officium Scriptoriae Apostolicae, worüber ihm den neunten November 1517. ein Breve ausgefertigt wurde. [350]
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Seiten hohl, welches uns gleichsam von der Bewegung seiner Eingeweide urtheilen läßt. Sein eigenes
Leiden aber scheint ihn weniger zu beängstigen, als die Pein seiner Kinder, die ihr Angesicht zu ihrem
Vater wenden, und um Hülfe schreyen: denn das väterliche Herz offenbaret sich in den wehmüthigen
Augen, und das Mitleiden scheint in einem trüben Dufte auf denselben zu schwimmen. Sein Gesicht ist
klagend, aber nicht schreyend, seine Augen sind nach der höhern Hülfe gewandt. Der Mund ist voll von
Wehmuth, und die gesenkte Unterlippe schwer von derselben; in der überwerts gezogenen Oberlippe
aber ist dieselbe mit Schmerz [349] vermischet, welcher mit einer Regung von Unmuth, wie über ein
unverdientes unwürdiges Leiden, in die Nase hinauftritt, dieselbe schwülstig macht, und sich in den
erweiterten und aufwerts gezogenen Nüssen offenbaret. Unter der Stirn ist der Streit zwischen Schmerz
und Widerstand, wie in einem Punkte vereiniget, mit großer Weisheit gebildet: denn indem der Schmerz
die Augenbranen in die Höhe treibet, so drücket das Sträuben wider denselben das obere Augenfleisch
niederwerts, und gegen das obere Augenlied zu, so daß dasselbe durch das übergetretene Fleisch beynahe
ganz bedeckt wird. Die Natur, welche der Künstler nicht verschönern konnte, hat er ausgewickelter,
angestrengeter und mächtiger zu zeigen gesuchet: da, wohin der größte Schmerz geleget ist, zeiget sich
auch die größte Schönheit. Die linke Seite, in welche die Schlange mit dem wütenden Bisse ihren Gift
ausgießet, ist diejenige, welche durch die nächste Empfindung zum Herzen am heftigsten zu leiden
scheint, und dieser Theil des Körpers kann ein Wunder der Kunst genennet werden. Seine Beine wollen
sich erheben, um seinem Uebel zu entrinnen; kein Theil ist in Ruhe: ja die Meißelstreiche selbst helfen
zur Bedeutung einer erstarreten Haut1.
Es haben einige wider dieses Werk Zweifel aufgeworfen, und, weil es nicht aus einem einzigen 486. 217
Stücke besteht, welches Plinius von dem Laocoon in den Bädern des Titus versichert, sondern aus zwey
Stücken zusammengesetzet ist, will man behaupten, es sey der gegenwärtige Laocoon nicht der alte so
berühmte. Pirro Ligorio ist einer von denselben, und er will aus Stücken von Füßen und Schlangen, 489
die größer, als die Na[350]tur, waren, und sich zu dessen Zeit fanden, glauben machen, der wahre alte
Laocoon sey viel größer, als der itzige, gewesen, und dieses vorausgesetzet, will er angezeigte Stücke viel
schöner, als die Statue im Belvedere, gefunden haben: dieses schreibt derselbe in seinen Handschriften
in der Vaticanischen Bibliothek. Den unerheblichen Zweifel über die zwey Stücke haben auch andere
angeführet, ohne zu bedenken, daß die Fuge ehemals nicht, wie itzo, sichtbar gewesen seyn wird. Das
Vorgeben des Ligorio aber ist nur zu merken wegen eines zerstümmelten Kopfs über Lebensgröße unter 488
den Trümmern hinter dem Farnesischen Paliaste, an welchem man noch eine Aehnlichkeit mit dem
Kopfe des Laocoons bemerket, und der vielleicht zu den obigen Füßen und Schlangen gehöret; itzo
ist dieser zerstümmelte Kopf, nebst andern Trümmern, nach Neapel geführet worden. Ich kann nicht
unangemerket lassen, daß sich zu St. Ildefonse, dem Lustschlosse des Königs in Spanien, ein erhoben
gearbeitetes Werk findet, welches den Laocoon, nebst seinen beyden Söhnen, vorstellet, über welche 859
ein fliegender Cupido schwebet, als wenn er ihnen zu Hülfe kommen wollte.
1 Ich habe in einer beglaubten schriftlichen Nachricht gefunden, daß Pabst Julius II. dem Felix von Fredis, welcher den Laocoon
in den Bädern des Titus entdeckete, ihm und seinen Söhnen zur Belohnung introitus et portionem gabellae Portae S. lohannis
Lateranensis verliehen habe. Leo X. aber gab diese Einkünfte an die Kirche von St. Johann Lateran zurück, und jenem an
deren Stelle Officium Scriptoriae Apostolicae, worüber ihm den neunten November 1517. ein Breve ausgefertigt wurde. [350]