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Statuen im Belvedere-Hof
Druckfassung der Laokoon-Beschreibung in GK1 S. 347-350 (GK Text S. 674-676)
486 a. VON DER STATUE DES LAOCOON.
Das gütige Schicksal aber, welches auch über die Künste bey ihrer Vertilgung noch gewachet, hat 5
aller Welt zum Wunder ein Werk aus dieser Zeit der Kunst erhalten, zum Beweis von der Wahrheit
der Geschichte von der Herrlichkeit so vieler vernichteten Meisterstücke. Laocoon, nebst seinen bey-
den Söhnen, vom Agesander, Apollodorus und Athanodorus aus Rhodus1 gearbeitet, ist nach aller
Wahrscheinlichkeit aus dieser Zeit, ob man gleich dieselbe nicht bestimmen, und, wie einige gethan
haben, die Olympias, in welcher diese Künstler geblühet haben, angeben kann2. Wir wissen, daß man 10
dieses Werk schon im Alterthume allen [348] Gemälden und Statuen vorziehen wollte, und also verdie-
net es bey der niedrigem Nachwelt, die nichts in der Kunst demselben zu vergleichen hervorgebracht
hat, um desto größere Aufmerksamkeit und Bewunderung. Der Weise findet darinnen zu forschen, und
der Künstler unaufhörlich zu lernen, und beyde können überzeuget werden, daß mehr in demselben
verborgen liegt, als was das Auge entdecket, und daß der Verstand des Meisters viel höher noch, als sein 15
Werk, gewesen.
Laocoon ist eine Natur im höchsten Schmerze, nach dem Bilde eines Mannes gemacht, der die
bewußte Stärke des Geistes gegen denselben zu sammeln suchet; und indem sein Leiden die Muskeln
aufschwellet, und die Nerven anziehet, tritt der mit Stärke bewaffnete Geist in der aufgetriebenen
Stirne hervor, und die Brust erhebet sich durch den beklemmten Othem, und durch Zurückhaltung 20
des Ausbruchs der Empfindung, um den Schmerz in sich zu fassen und zu verschließen. Das bange
Seufzen, welches er in sich, und den Othem an sich zieht, erschöpfet den Unterleib, und machet die
1 Zu Nettuno, ehemals Antium, hat der Herr Cardinal Alexander Albani im Jahre 1717. in einem großen Gewölbe,
1312 welches im Meere versunken lag, eine Base einer Statue entdecket, welche von schwarzgräulichem Marmor ist,
den man itzo Bigio nennet, in welche die Figur eingefüget war: auf derselben befindet sich folgende Inschrift: 25
ΑΘΑΝΟΔΩΡΟΣ ΑΓΗΣΑΝΔΡΟΥ
ΡΟΔΙΟΣ ΕΠΟΙΗΣΕ
„Athanodorus des Agesanders Sohn, aus Rhodus, hat es gemacht.“ Wir lernen aus dieser Inschrift, daß Vater und Sohn am
Laocoon gearbeitet haben, und vermuthlich war auch Apollodorus des Agesanders Sohn: denn dieser Athanodorus kann kein an-
derer seyn, als der, welchen Plinius nennet. Es beweiset ferner diese Inschrift, daß sich mehr Werke der Kunst, als nur allein drey, 30
wie Plinius will, gefunden haben, auf welche die Künstler das Wort „Gemacht“ in vollendeter und bestimmter Zeit gesetzet, nem-
lich έποίησε, fecit: er berichtet, daß die übrigen Künstler aus Bescheidenheit sich in unbestimmter Zeit ausgedrücket, έποίεΐ,
91 ß faciebat. Unter gedachtem Gewölbe, tiefer im Meere, fand sich ein Stück eines großen Werks erhobener Arbeit, auf welchem
man itzo nur noch ein Stück eines Schildes, und eines Degens, unter demselben hängend, und übereinander geworfene Stücke
großer Steine vorgestellet sieht, an deren Fuß eine Tafel angelehnet liegt: mit der Zierlichkeit und Ausführung der Arbeit dieses
Werks, ist kein anderes von allen, die sich erhalten haben, zu vergleichen. Es steht dasselbe bey dem Bildhauer Barthol. Cavacepi. ^5
2 Plinius meldet kein Wort von der Zeit, in welcher Agesander und die Gehülfen an seinem Werke gelebet haben: Maffei aber in
der Erklärung alter Statuen, hat wissen wollen, daß diese Künstler in der acht und achtzigsten Olympias geblühet haben, und
auf dessen Wort haben andere, als Richardson, nachgeschrieben. Jener hat, wie ich glaube, einen Athenodorus unter des Po-
lycletus Schülern a), für einen von unsern [348] Künstlern genommen, und da Polycletus in der sieben und achtzigsten Olym-
pias geblühet, so hat man seinen vermeynten Schüler eine Olympias später gesetzet: andere Gründe kann Maffei nicht haben.
Rollin redet vom Laocoon, als wenn er nicht in der Welt wäre b). a) Plin. L. 34. c. 19. [348] b) Hist. anc. T. XI. p. 87. [349] ,
Statuen im Belvedere-Hof
Druckfassung der Laokoon-Beschreibung in GK1 S. 347-350 (GK Text S. 674-676)
486 a. VON DER STATUE DES LAOCOON.
Das gütige Schicksal aber, welches auch über die Künste bey ihrer Vertilgung noch gewachet, hat 5
aller Welt zum Wunder ein Werk aus dieser Zeit der Kunst erhalten, zum Beweis von der Wahrheit
der Geschichte von der Herrlichkeit so vieler vernichteten Meisterstücke. Laocoon, nebst seinen bey-
den Söhnen, vom Agesander, Apollodorus und Athanodorus aus Rhodus1 gearbeitet, ist nach aller
Wahrscheinlichkeit aus dieser Zeit, ob man gleich dieselbe nicht bestimmen, und, wie einige gethan
haben, die Olympias, in welcher diese Künstler geblühet haben, angeben kann2. Wir wissen, daß man 10
dieses Werk schon im Alterthume allen [348] Gemälden und Statuen vorziehen wollte, und also verdie-
net es bey der niedrigem Nachwelt, die nichts in der Kunst demselben zu vergleichen hervorgebracht
hat, um desto größere Aufmerksamkeit und Bewunderung. Der Weise findet darinnen zu forschen, und
der Künstler unaufhörlich zu lernen, und beyde können überzeuget werden, daß mehr in demselben
verborgen liegt, als was das Auge entdecket, und daß der Verstand des Meisters viel höher noch, als sein 15
Werk, gewesen.
Laocoon ist eine Natur im höchsten Schmerze, nach dem Bilde eines Mannes gemacht, der die
bewußte Stärke des Geistes gegen denselben zu sammeln suchet; und indem sein Leiden die Muskeln
aufschwellet, und die Nerven anziehet, tritt der mit Stärke bewaffnete Geist in der aufgetriebenen
Stirne hervor, und die Brust erhebet sich durch den beklemmten Othem, und durch Zurückhaltung 20
des Ausbruchs der Empfindung, um den Schmerz in sich zu fassen und zu verschließen. Das bange
Seufzen, welches er in sich, und den Othem an sich zieht, erschöpfet den Unterleib, und machet die
1 Zu Nettuno, ehemals Antium, hat der Herr Cardinal Alexander Albani im Jahre 1717. in einem großen Gewölbe,
1312 welches im Meere versunken lag, eine Base einer Statue entdecket, welche von schwarzgräulichem Marmor ist,
den man itzo Bigio nennet, in welche die Figur eingefüget war: auf derselben befindet sich folgende Inschrift: 25
ΑΘΑΝΟΔΩΡΟΣ ΑΓΗΣΑΝΔΡΟΥ
ΡΟΔΙΟΣ ΕΠΟΙΗΣΕ
„Athanodorus des Agesanders Sohn, aus Rhodus, hat es gemacht.“ Wir lernen aus dieser Inschrift, daß Vater und Sohn am
Laocoon gearbeitet haben, und vermuthlich war auch Apollodorus des Agesanders Sohn: denn dieser Athanodorus kann kein an-
derer seyn, als der, welchen Plinius nennet. Es beweiset ferner diese Inschrift, daß sich mehr Werke der Kunst, als nur allein drey, 30
wie Plinius will, gefunden haben, auf welche die Künstler das Wort „Gemacht“ in vollendeter und bestimmter Zeit gesetzet, nem-
lich έποίησε, fecit: er berichtet, daß die übrigen Künstler aus Bescheidenheit sich in unbestimmter Zeit ausgedrücket, έποίεΐ,
91 ß faciebat. Unter gedachtem Gewölbe, tiefer im Meere, fand sich ein Stück eines großen Werks erhobener Arbeit, auf welchem
man itzo nur noch ein Stück eines Schildes, und eines Degens, unter demselben hängend, und übereinander geworfene Stücke
großer Steine vorgestellet sieht, an deren Fuß eine Tafel angelehnet liegt: mit der Zierlichkeit und Ausführung der Arbeit dieses
Werks, ist kein anderes von allen, die sich erhalten haben, zu vergleichen. Es steht dasselbe bey dem Bildhauer Barthol. Cavacepi. ^5
2 Plinius meldet kein Wort von der Zeit, in welcher Agesander und die Gehülfen an seinem Werke gelebet haben: Maffei aber in
der Erklärung alter Statuen, hat wissen wollen, daß diese Künstler in der acht und achtzigsten Olympias geblühet haben, und
auf dessen Wort haben andere, als Richardson, nachgeschrieben. Jener hat, wie ich glaube, einen Athenodorus unter des Po-
lycletus Schülern a), für einen von unsern [348] Künstlern genommen, und da Polycletus in der sieben und achtzigsten Olym-
pias geblühet, so hat man seinen vermeynten Schüler eine Olympias später gesetzet: andere Gründe kann Maffei nicht haben.
Rollin redet vom Laocoon, als wenn er nicht in der Welt wäre b). a) Plin. L. 34. c. 19. [348] b) Hist. anc. T. XI. p. 87. [349] ,