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Winckelmann, Johann Joachim; Balensiefen, Lilian; Borbein, Adolf Heinrich [Hrsg.]; Kunze, Max [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz [Hrsg.]; Deutsches Archäologisches Institut [Hrsg.]; Winckelmann-Gesellschaft [Hrsg.]
Schriften und Nachlaß (Band 4,5): Statuenbeschreibungen, Materialien zur "Geschichte der Kunst des Alterthums", Rezensionen — [Mainz am Rhein]: Verlag Philipp von Zabern, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.58927#0059

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Torso

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Druckfassung der Torso-Beschreibung in: Versuch einer Allegorie, besonders für die Kunst, Dresden
1766 S. 155-158 (hier Fassung der Säkularausgabe S. 145-148)
Ich führe dich zu dem so viel gerühmten und niemals genug gepriesenen Sturze eines Hercules, zu einem 573
Werke, welches das vollkommenste in seiner Art und unter die höchste Hervorbringungen der Kunst zu
zählen ist, von denen, welche bis auf unsere Zeiten gekommen sind. Wie aber werde ich dir denselben
beschreiben, da er der schönsten und der bedeutendesten Theile der Natur beraubet ist! So wie von einer
prächtigen Eiche, die umgehauen und von Zweigen und Aesten entblöset worden, nur der Stamm allein
übrig geblieben ist, eben so gemißhandelt und verstümmelt sitzet das Bild des Helden; Kopf, Arme und
Beine und das oberste der Brust fehlen.
Der erste Anblick wird dir vielleicht nichts als einen verunstalteten Stein entdecken; vermagst du
aber in die Geheimnisse der Kunst einzudringen, so wirst du ein Wunder derselben erblicken, wenn du
dieses Werk mit einem ruhigen Auge betrachtest. Alsdenn wird dir Hercules wie mitten in allen seinen
Unternehmungen erscheinen, und der Held und der Gott werden in diesem Stücke zugleich sichtbar
werden.
Da, wo die Dichter aufgehört haben, hat der Künstler angefangen: jene schwiegen so bald der Held
unter die Götter aufgenommen und mit der Göttinn der ewigen Jugend ist vermählet worden; dieser
aber zeiget uns denselben in einer vergötterten Gestalt, und mit einem gleichsam unsterblichen Leibe,
welcher dennoch Stärke und Leichtigkeit zu den grossen Unternehmungen, die er vollbracht, behalten
hat.
Ich sehe in den mächtigen Umrissen dieses Leibes die unüberwundene Kraft des Besiegers der
gewaltigen Riesen, die sich wider die Götter empöreten, und in den phlegräischen Feldern von ihm
erleget wurden, und zu gleicher Zeit stellen mir die sanften Züge dieser Umrisse, die das Gebäude des
Leibes leicht und gelenksam machen, die geschwinden Wendungen desselben in dem Kampfe mit dem
Achelous vor, der mit allen vielförmigen Verwandelungen seinen Händen nicht entgehen konnte. In
jedem [146] Theile des Körpers offenbaret sich, wie in einem Gemählde, der ganze Held in einer beson-
deren That, und man sicher, so wie die richtigen Absichten in dem vernünftigen Baue eines Paliastes,
hier den Gebrauch, zu welcher That ein jedes Theil gedienet hat.
Ich kann das wenige, was von der rechten Schulter noch zu sehen ist, nicht betrachten, ohne mich zu
erinnern, daß auf ihrer ausgebreiteten Stärke, wie auf zwey Gebürgen, die ganze Last der himmlischen
Kreisse geruhet hat. Mit was für einer Großheit wächset die Brust an, und wie prächtig ist die anhebende
Rundung ihres Gewölbes! Eine solche Brust muß diejenige gewesen seyn, auf welche der Riese Antäus
und der dreyleibigte Geryon erdrücket worden. Keine Brust eines drey- und viermal gekrönten olym-
pischen Siegers, keine Brust eines Spartanischen Kriegers von Helden gebohren, muß sich so prächtig
und erhoben gezeiget haben.
Fraget diejenigen, die das Schönste in der Natur der Sterblichen kennen, ob sie eine Seite gesehen
haben, die mit der linken Seite zu vergleichen ist. Die Wirkung und Gegenwirkung ihrer Muskeln ist
mit einem weislichen Maaße von abwechselnder Regung und schneller Kraft wunderwürdig abgewogen,
und der Leib mußte durch dieselben zu allem, was er vollbringen wollen, tüchtig gemachet werden.
So wie in einer anhebenden Bewegung des Meers die zuvor stille Fläche in einer neblichen Unruhe
 
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