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Statuen im Belvedere-Hof
mit spielenden Wellen anwächst, wo eine von der anderen verschlungen und aus derselben wiederum
hervor gewälzet wird: eben so sanft aufgeschwellet und schwebend gezogen fliesset hier eine Muskel in
die andere, und eine dritte, die sich zwischen ihnen erhebet, und ihre Bewegung zu verstärken scheinet,
verlieret sich in jene, und unser Blick wird gleichsam mit verschlungen.
Hier möchte ich stille stehen, um unseren Betrachtungen Raum zu geben, der Vorstellung ein 5
immerwährendes Bild von dieser Seite einzudrücken; allein die hohen Schönheiten sind hier in einer
unzertrennlichen Mittheilung. Was für ein Begrif erwächset zugleich hierher aus den Hüften, deren
Festigkeit andeuten kann, daß der Held niemals gewanket, und nie sich beugen müssen! In diesem
Augenblicke durchfähret mein Geist die entlegensten Gegenden der Welt, durch welche Hercules gezo-
gen ist, und ich werde bis an die Grenzen seiner Mühseligkeiten, und bis an die Denkmale und Säulen, 10
wo sein Fuß ruhete, geführet durch den Anblick der Schenkel von unerschöpflicher Kraft, und von einer
den Gottheiten eigenen Länge, die den Held durch hundert Länder und Völker bis zur Unsterblichkeit
getragen haben. Ich fieng an diese entfernte Züge zu überdenken, da mein Geist zurück gerufen wird
durch einen Blick auf seinen Rücken. Ich wurde entzücket, da ich diesen Köper von hinten ansahe, so
wie ein Mensch, der nach Bewunderung des prächtigen Portals an einem Tempel auf die Höhe desselben 15
geführet [147] würde, wo ihn das Gewölbe, welches er nicht übersehen kann, von neuen in Erstaunen
setzet.
Ich sehe hier den vornehmsten Bau der Gebeine dieses Leibes, den Ursprung der Muskeln und den
Grund ihrer Lage und Bewegung, und dieses alles zeiget sich wie eine von der Höhe der Berge entdeckete
Landschaft, über welche die Natur den mannigfaltigen Reichthum ihrer Schönheiten ausgegossen. So 20
wie die luftigen Höhen derselben sich mit einem sanften Abhange in gesenkte Thäler verkehren, die
hier sich schmälern und dort erweitern; so mannigfaltig, prächtig und schön erheben sich hier schwel-
lende Hügel von Muskeln, um welche sich oft unmerkliche Tiefen, gleich dem Strohme des Mäanders,
krümmen, die weniger dem Gesichte, als dem Gefühle offenbar werden.
Scheinet es unbegreiflich, äusser dem Haupte, in einem anderen Theile des Körpers, eine denkende 25
Kraft zu zeigen, so lernet hier, wie die Hand eines schöpferischen Meisters die Materie geistig zu machen
vermögend ist. Mich deucht, es bilde mir der Rücken, welcher durch hohe Betrachtungen gekrümmet
scheinet, ein Haupt das mit einer frohen Erinnerung seiner erstaunenden Thaten beschäftiget ist; und
indem sich so ein Haupt voll von Majestät und Weisheit vor meinen Augen erhebet, so fangen sich an
in meinen Gedanken die übrigen mangelhaften Glieder zu bilden; es sammlet sich ein Ausfluß aus dem 30
Gegenwärtigen, und wirket gleichsam eine plötzliche Ergänzung.
Die Macht der Schulter deutet mir an, wie stark die Arme gewesen, die den Löwen auf dem Gebürge
Cithäron erwürget, und mein Auge suchet sich diejenigen zu bilden, die den Cerberus gebunden und
weggeführet haben. Seine Schenkel und das erhaltene Knie geben mir einen Begrif von den Beinen, die
niemahls ermüdet sind, und den Hirsch mit Füssen von Ertzte verfolget und erreichet haben. Durch eine 35
geheime Kunst aber wird der Geist durch alle Thaten seiner Stärke bis zur Vollkommenheit seiner Seele
geführet, und in diesem Sturze ist ein Denkmal derselben, welches ihm kein Dichter, die nur die Stärke
seiner Arme besingen, errichtet: der Künstler hat sie übertroffen. Sein Bild des Helden giebt keinem
Gedanken von Gewaltthätigkeit und von ausgelassener Liebe Platz: in der Ruhe und Stille des Körpers
offenbaret sich der gesetzte große Geist; der Mann welcher sich aus Liebe zur Gerechigkeit den große- 40
Statuen im Belvedere-Hof
mit spielenden Wellen anwächst, wo eine von der anderen verschlungen und aus derselben wiederum
hervor gewälzet wird: eben so sanft aufgeschwellet und schwebend gezogen fliesset hier eine Muskel in
die andere, und eine dritte, die sich zwischen ihnen erhebet, und ihre Bewegung zu verstärken scheinet,
verlieret sich in jene, und unser Blick wird gleichsam mit verschlungen.
Hier möchte ich stille stehen, um unseren Betrachtungen Raum zu geben, der Vorstellung ein 5
immerwährendes Bild von dieser Seite einzudrücken; allein die hohen Schönheiten sind hier in einer
unzertrennlichen Mittheilung. Was für ein Begrif erwächset zugleich hierher aus den Hüften, deren
Festigkeit andeuten kann, daß der Held niemals gewanket, und nie sich beugen müssen! In diesem
Augenblicke durchfähret mein Geist die entlegensten Gegenden der Welt, durch welche Hercules gezo-
gen ist, und ich werde bis an die Grenzen seiner Mühseligkeiten, und bis an die Denkmale und Säulen, 10
wo sein Fuß ruhete, geführet durch den Anblick der Schenkel von unerschöpflicher Kraft, und von einer
den Gottheiten eigenen Länge, die den Held durch hundert Länder und Völker bis zur Unsterblichkeit
getragen haben. Ich fieng an diese entfernte Züge zu überdenken, da mein Geist zurück gerufen wird
durch einen Blick auf seinen Rücken. Ich wurde entzücket, da ich diesen Köper von hinten ansahe, so
wie ein Mensch, der nach Bewunderung des prächtigen Portals an einem Tempel auf die Höhe desselben 15
geführet [147] würde, wo ihn das Gewölbe, welches er nicht übersehen kann, von neuen in Erstaunen
setzet.
Ich sehe hier den vornehmsten Bau der Gebeine dieses Leibes, den Ursprung der Muskeln und den
Grund ihrer Lage und Bewegung, und dieses alles zeiget sich wie eine von der Höhe der Berge entdeckete
Landschaft, über welche die Natur den mannigfaltigen Reichthum ihrer Schönheiten ausgegossen. So 20
wie die luftigen Höhen derselben sich mit einem sanften Abhange in gesenkte Thäler verkehren, die
hier sich schmälern und dort erweitern; so mannigfaltig, prächtig und schön erheben sich hier schwel-
lende Hügel von Muskeln, um welche sich oft unmerkliche Tiefen, gleich dem Strohme des Mäanders,
krümmen, die weniger dem Gesichte, als dem Gefühle offenbar werden.
Scheinet es unbegreiflich, äusser dem Haupte, in einem anderen Theile des Körpers, eine denkende 25
Kraft zu zeigen, so lernet hier, wie die Hand eines schöpferischen Meisters die Materie geistig zu machen
vermögend ist. Mich deucht, es bilde mir der Rücken, welcher durch hohe Betrachtungen gekrümmet
scheinet, ein Haupt das mit einer frohen Erinnerung seiner erstaunenden Thaten beschäftiget ist; und
indem sich so ein Haupt voll von Majestät und Weisheit vor meinen Augen erhebet, so fangen sich an
in meinen Gedanken die übrigen mangelhaften Glieder zu bilden; es sammlet sich ein Ausfluß aus dem 30
Gegenwärtigen, und wirket gleichsam eine plötzliche Ergänzung.
Die Macht der Schulter deutet mir an, wie stark die Arme gewesen, die den Löwen auf dem Gebürge
Cithäron erwürget, und mein Auge suchet sich diejenigen zu bilden, die den Cerberus gebunden und
weggeführet haben. Seine Schenkel und das erhaltene Knie geben mir einen Begrif von den Beinen, die
niemahls ermüdet sind, und den Hirsch mit Füssen von Ertzte verfolget und erreichet haben. Durch eine 35
geheime Kunst aber wird der Geist durch alle Thaten seiner Stärke bis zur Vollkommenheit seiner Seele
geführet, und in diesem Sturze ist ein Denkmal derselben, welches ihm kein Dichter, die nur die Stärke
seiner Arme besingen, errichtet: der Künstler hat sie übertroffen. Sein Bild des Helden giebt keinem
Gedanken von Gewaltthätigkeit und von ausgelassener Liebe Platz: in der Ruhe und Stille des Körpers
offenbaret sich der gesetzte große Geist; der Mann welcher sich aus Liebe zur Gerechigkeit den große- 40