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903

fade Betegenen Raum. Nach Kurzem wurde konstatirt, daß Baumgarteu,
vom Schlage getroffen, verstorben sei. Wie ein Soldat auf dem Schlachtfeld,
so >var dieser eifrige und überzeugungstreue Sozialdemokrat inmitten der
Verhandlungen des Parteitages vom Tode himveggerafst worden.

Baumgarteu gehörte der sozialdemokratischen Partei seit langen Jahren
an und hatte alle ihre Kämpfe mit durchgemacht. Er trat nicht als Redner
in den Vordergrund, aber er war einer von jenen braven und tüchtigen
Arbeitern, die mit unbeugsamer Gewissenhaftig-
keit ihre Parteipflicht erfüllen und dadurch Andere
aneifern, das Gleiche zu thun. Seine Genossen,
die seine Thätigkeit zu schätzen wußten, ehrten ihn,
indem sie ihm ihr Vertrauen schenkten, und so
sandten sie ihn als Delegirten auf den Parteitag
nach Halle, von wo er nicht mehr lebend zu den
Seinen zurückkehren sollte.

Seine zahlreiche Familie hat mit ihm den
trenbesorgten Vater verloren, der über den Partei-
pflichten auch die Sorge um die Seinigen nicht
vernachlässigte. Er betrieb zuletzt eine Brot-
handlnug, die ihn bescheiden, aber redlich nährte.

Bestürzung verbreitete sich im Sitzungssaale
des Parteitages, als die Schreckensknnde laut
wurde. Der Vorsitzende, Abgeordneter Paul
Singer, theilte in ernsten Worten der Versammlung
das Ableben des braven Genossen mit; dann erhob
sich der Parteitag, das Andenken des Todten zu
ehren, von den Sitzen. Die Sitzung wurde dann
geschlossen und erst am Nachmittag wieder aus-
genommen.

Gegen Abend, als die Dämmerung sich
herabsenkte, war der Todte eingesargt und seine

Samburger Genossen trugen den Sarg in den
itzungssaal, wo er am Eingänge ausgestellt
wurde. Er war mit einer rothen Fahne bedeckt,
die die Inschrift: „Freiheit! Gleichheit! Brüder-
lichkeit!" trug. Diese Fahne, Eigenthum der
Kasseler Partei-
genossen, war unter
dem Sozialisten-
gesetz nach der
Schweiz geflüchtet
und nun wieder
zuriickgebracht wor-
den. So war ihre
erste Pflicht, den
Sarg eineswackeren
Genossen zu decken.

Ernst und
schweigend umstan-
den die Genossen
des Todten den
Sarg. Ueber manch'
hartes und wetter-
gebräuntes Gesicht
sah man eineThräne
rinnen, denn der
Eindruck des plötz-
lichen Todes war
ein gewaltiger und
Niemand konnte sich
dessen erwehren.

Mit tiefbewegter
Stimme hielt der
AbgeordneteSinger
die Leichenrede; er
betrauerte tief den
Geschiedenen, aber
er betonte auch, daß
derselbe einen stol-
zen Tod gestorben,
da er die Sache,
für die er gekämpft,
noch in der Vor-
ahnung des Triumphes gesehen habe.

Dann hoben die Freunde des Todten den Sarg auf ihre kräftigen
Schultern und trugen ihn hinaus. Der ganze Parteitag folgte. Es war
Nacht geworden und ein seiner Regen rieselte herab; eine düstere Stimmung
bemächtigte sich der Delegirten. Schweigend bewegte sich der stattliche Leichenzug
durch die Straßen nach dem Bahnhof, und wer von Höllischen' Arbeitern
dem Zug begegnete, schloß sich an, so daß derselbe gewaltig anschwoll. Am
Bahnhof konnte man erst die wogende Mensehenmasse übersehen, die zusammen-
geströmt war. Dort wurde der Sarg in einen Waggon verbracht und
noch in derselben Nacht nach Hamburg übergeführt. — Die Begräbnißkosten
sind nach einem Beschluß von der Parteikasse übernommen.

Der Tag wird Jedem im Gedächtniß bleiben, der dabei gewesen, und
auch von beit Einwohnern von Halle wird der nächtliche Leichenzug sobald
nicht vergessen werden.

Am Sarge Bamngarten's.

Dem trefflichen und treuen Genossen aber, den der Tod so plötzlich ans
seinen Freunden und aus seinem Wirkungskreise gerissen, sei ein ehrendes
Andenken bewahrt. Er ruhe in Frieden! Die Saat, die er gestreut, wird
aufgehen und seinen Nachkommen Blumen und Früchte bringen.

Die hamburgischen Arbeiter veranstalteten eine großartige Leichenfeier.
Zirka 20 000 Personen gaben dem Dahingeschiedenen das Geleite nach dem
Ohlsdorfer Friedhofe.

Schluß.

Die Thätigkeit des Kongresses lieferte
den Beweis, daß die Sozialdemokratie in
ihrem langen Kampfe mit einer übermächtigen
Reaktion etwas gelernt hat. Sie- hat alles
Sektenwesen abgestreift und wer mit dem
Kopfe durch die Wand rennen will, der
wird bei der Sozialdemokratie keine Ge-
nossen finden. So sprach sich Liebknecht
n, 31. über die Gewaltpolitik aus: „Wir
sind zwanzig Prozent der Bevölkerung.
Wollten wir aber Gewalt anwenden, dann
hätten die übrigen achtzig Prozent auch ein
Recht dazu, und sie haben die Armee und
die ganze Staatsmacht für sich. Wir aber
müßten schmählich unterliegen."

Jawohl, die Sozialdemokratie wird sich
vor solchen Thorheiten hüten, durch, die
Alles, was bis jetzt erreicht ist, mit einem
Schlage vernichtet werden könnte» Hat doch
auch noch in der Blüthezeit der Puttkamerei,
als die Gemllther auf's Höchste erregt waren,
der Kongreß von St. Gallen sich gegen die
Gewaltpolitik erklärt und ausgesprochen, daß
die Rolle der Ge-
walt in der Ge-
schichte eher eine
reaktionäre als eine
revolutionäre ist.

Energisch und
klug ist die Sozial-
demokratie in die
neue Aera einge-
zogen, die sich ihr
nun eröffnet. Ener-
gisch, denn sie hat
keines ihrer Grund-
prinzipien aufge-
geben oder auch nur
verschleiert; sie hat
ihrem Programm
eine unverhüllte
Kritik angedeihen
lassen und wird die
einzelnen Punkte
klarer fassen. Klug,
denn sie wird bei
aller Kritik es nicht
vernachlässigen, sich
positiv schassend am
öffentlichen Leben zu
betheiligen. Sie
wird den Parla-
mentarismus weder
über- noch unter-
schätzen und wird
ihn, soweit es an-
gänglich, für das
arbeitende Volk auch
ferner nutzbar
machen.

Klug war auch
die Taktik, welche
den Boykott und
den Streik als

zweischneidige Schwerter bezeichnete und eine vorsichtige Anwendung dieser
Waffen empfahl. Die Sozialdemokratie will nicht, daß Mißbrauch und Muth-
willen mit diesen Dingen getrieben werde.

Es giebt unter den Feinden der Sozialdemokratie solche, die nur von
etwaigen Thorheiten der Partei leben und sich eine Zukunft versprechen
können. Sie sind jedesmal unglücklich, wenn sie sehen, daß die Partei keine
Thorheiten macht, auf die sie doch so sehnlich gehofft haben. Nun, sie mögen
alle Hoffnung fahren lassen, denn wir werden so besonnen sein, daß unsere
Feinde darob in Verzweiflung gerathen.

Die Stärke, das Wachsthum und die Jugendfrische der Partei bei so
viel Besonnenheit und Klugheit haben Alle mit gerechtem Stolze erfüllt, die
seit langen Jahren für die sozialistische Bewegung gearbeitet und die Partei
noch in ihren kleinen und wenig tröstlichen Anfängen gekannt haben. Es
ging ein historischer Hauch durch die Versammlung, als eine gebeugte Greisen-
 
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