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914

Keine Utopien.

Ä)cil wir's verschmäh'«, die Welt zu unterhalten
Mit Reglements, die wir der Zukunft geben,
lind uns statt dessen durch die That bestreben,

Die Gegenwart auf's Beste zu gestalten. —

Weil uns're Eukel formuliren sollen

Den Sozialismus selbst sich, nach Bedürfniß,

So ■— sagt der Gegner — herrsche ein Zerwürfniß
Ob uns'ren Lehren und dem was wir wollen.

Wir könnten nur vandalisch ruinircn,

Was tausend Jahre der Kultur erschaffen,

Anstatt den Oelzweig Ivüßten wir nur Waffen
Zu Mord und Todtschlag frevelhaft zu führen.

Pränumerando wünscht man dargestellt
Die neue Zeit, der wir entgegen gehen;

Wie man dann lvohnt, sich kleidet, will man sehen,
Und ivie's um Essen, Trinken ist bestellt.

Die Krämerseelen! Grad als ob sic Palmen
Des freien Süds ins dumpf'ge Glashaus setzen,
Gewinneshalber, und an Dichterpsalmen
In Soireen sich heuchlerisch ergötzen.

Wer kann die Geister in ein Schema zwingen
Und wer das Leben in bestimmte Formen?
Form schafft die Welt sich selber, und die Normen,
Das Wie der Zukunft wird sic selbst sich bringen.

Wie hoch und hehr ragt aus den trüben Wellen
Des Unverstands des Sozialismus Felsen!

Wie auch die Wogen sich zu Berge wälzen,

An diesem Eiland müssen sic zerschellen.

Vom Wust vcrstorb'ncr Institutionen,

Verlebter Sitten, narrheitword'nem Sehnen
Der grauen Vorzeit wollen wir entwöhnen,

Die uns're Erde Pflügen und bewohnen.

Der Gegenwart verwildertes Gelände
Auf Grund der Forschung fleißig zu bebauen
Und durch die Wildniß allorts Weg zu hauen,
Daß Mensch zum Menschen leicht die Pfade fände.

Die Dienstmagd Arbeit auf den Thron zu führen
Vom ruß'gcn Herde, und die bösen Schwestern
Habsucht und Herrschsucht, die so heut wie gestern
Die Welt bedrücken, zu expropriiren.

Das ist des Sozialismus ganzes Kredo,
Das freudig wir der alten Welt verkünden,
Sie zu erlösen von den alten Sünden,

Trotz aller Finsterlinge Haß und Veto!

A. E

Berlin, Anfang Dezember.

Lieber Jacob!

Nu sind wir dicke raus, mit siebzig un een Frciloos, Jacob, un nu
kann uns ieberhaupt so leichte Keener mehr an de Wimpern klimpern. Wat
sagste denn eijentlich un zu Robert Koch'n? Wat, da stehste pass un weeßt
nich, wat De sagen sollst. Ick kann Dir ja nu verrathen, bet ick eijentlich
zuerst, wie ick von bet jlorrciche Ereigniß Heerte, ooch nich so recht wußte,
>vat ick sagen sollte, objleich ick sonst nich in'n Jeringsten perplex bin, weil
ick een beeser Anhänger von dct elfte Jebot bin, wat bekanntlich hceßt:
„Laß Dir nich verblifscn".

Aber wir haben nu een Mittel jejen de Schwindsucht, un de Bazillen
sollen nu vor Angst jarnich wissen, wat se anfangen sollen. Robert Koch
is hcitc der beriehmteste Mann, un Forckenbeck soll sich schon seine Feder j

spitz jemacht haben, um vor Koch'n eenen Ehrenbirjcrbricf vor de Stadt
Berlin zu schreiben. Ick wecß nu in meinen dämlichen Unterthansvcrstand
natierlich nich, ob man damit den beriehmten Forscher eenen besonderen
Jefalleu erweisen Wirde, indem ick selbst hecchstens die Aussicht habe, mall
in spätere Zeiten Ehrcnbirjer von Plötzcnsee werden zu können — aber wenn
de Stadt Berlin mit ihren Oberbirjermecster an de Spitze weiter nischt wecß,
als wie so'n Ehrenbirjerdiplom auszustellcn, denn kann se sich, objleich se
sich von de Schwindsucht mit een Paar Spritzen voll Schwindsuchtstiuktull
befreien kann, man janz ruhig in eenen Ehrcnnascnquetscher bejraben lassen.

Also die Dage der Schwindsucht sind jezählt. Et wird bald ne Zeit
kommen, wo man jarnich mehr wecß, wat eijentlich de Schwindsucht war,
aber dct Kapital wird woll denn irjeud eene andere Krankheit erfunden haben,
die davor sorgt, dct de Proletarier nich zu ippig werden. Un det hat ja

Eine Gristrrstimmr.

Skizze von M. K.

s war zur gesegneten Zeit des Sozialisten-
gesetzes, welches uns rothen Umstürzlern den
Garaus machen sollte. Wir ließen uns aber dadurch
weiter nicht in unserer Gemüthlichkeit stören, sondern
fanden uns jeden Samstag iin Nebenzimmer des
„blauen Wolfes" zu einem Pfeifenklub zusammen.
Wenn behauptet worden ist, dieser Pfeifenklub habe
den Zweck gehabt, auf das Gesetz zu pfeifen, so
ist das eine ganz unerwiesene Anschuldigung; cs
war wirklich nicht der heutige Staat, sondern nur
Knaster, den wir in Rauch aufgehen ließen.

Wir waren ihrer fünf; darunter der kleine Schulze,
ein überaus bewegliches und immer lustiges Männchen,
und der dicke Burkhard, eine große impouircnde
Gestalt, die wir den Leuten oft als Muster für das
Aussehen der Arbeiter im Znkunftsstaat vorführten.
An Stelle des unlängst verstorbenen Genossen Müller
hatten wir einen Zuwachs von Außerhalb erhalten,
nämlich den Mechaniker Stichlink, welcher angeblich
aus Berlin gekommen war und uns immer belehrte,
wie wir Alles besser zu mache» hätten. Auch waren
wir ihm nicht radikal genug und er faselte so viel
von Rebellion und Barrikaden-Taktik, daß uns
manchmal ein leises Mißtrauen gegen ihn befiel.

Eines durchaus nicht schönen Abends — cs
rcgnote und stürmte draußen unaufhörlich — saßen
wir zu später Stunde.noch in unserem Klublokal
und tranken, dem Beispiel der alten Deutschen folgend,
immer noch eins. Genosse Stichlink setzte uns gerade
auseinander, daß der Schweizerkäse — der damals
noch in Zürich erscheinende „Sozialdemokrat" —
doch eine zu schwache Kost sei und wir es einmal
mit dem „Rebell" oder der „Freiheit" versuchen
sollten. Dem Vorschlag folgte eine Minute des
Schweigens. Wir hörten die nahe Thurmuhr Zwölf
schlagen. Ein Windstoß riß gleichzeitig den einen
Fensterladen ans. Und — wunderbar! Aus dem
draußen tobenden Wetter hörten wir ganz nahe und
deutlich eine Stimme ertönen, welche rief:

„Folgt ihm nicht, er ist ein Spitzel!"

Man sprang betroffen auf und sah sich gegen-
seitig au. Stichlink war leichenblaß. Einer riß das
Fenster auf und blickte die Straße hinab; sic war,
so weit man beim Laternenscheine sehen konnte,

menschenleer, auch vor der Thür war Niemand.
Woher kam nun die Stimme, die so nahe, fast
im Zimmer selbst, sich hatte hören lassen? Sozial-
demokraten sind nicht abergläubisch, aber als der
kleine Schulze behauptete, die Stimme habe beinahe
wie diejenige des verstorbenen Müller geklungen,
wurde cs Einigen doch unbehaglich; nur der dicke
Burkhard behielt seine klassische Ruhe und äußerte,
der freundliche Warner scheine die Polizeistunde zu
respcktiren, da er so schnell verduftet sei. Man hatte
keine Lust mehr, zu debattircn und ging nach Hause.

In der nächsten Sitzung unseres Klubs erschien
Stichlink nicht. Wir Andern nahmen einige Ab-
rechnungen über Sammellisten rc. vor, als wir
plötzlich draußen im Hausgange etwas klirren hörten,
wie von einem Schleppsäbel; gleich darauf vernahm
man die Stimme des Wirthes, der aufgeregt mit
Jemand sprach.

„Das scheint Polizei zu sein", wurde geäußert,
„es ist besser, wir gehen ins allgemeine Gastlokal
hinüber." Man nahm die Gläser, Burkhard warf
seinen Ucberziehcr über den Arm, in demselben
Augenblicke öffnete sich aber auch schon die Thür,
ein Polizeiinspektor in voller Uniform erschien, um
die „Versammlung" aufzulöscn, und zwei Gendarmen
besetzten den Eingang.

„Ich muß eine Durchsuchung des Lokals vor-
nehmen", sagte der Inspektor.

„Auch gut", bemerkte Burkhard, und warf seinen
Ucbcrzieher neben sich auf eine» Stuhl. Da fiel aus
der Tasche desselben ein Gegenstand heraus — wie
wir später erfuhren, sein Notizbuch, welches die Namen
von Abonnenten des „Sozialdemokrat" enthielt. Der
Inspektor hatte das Fallen des Buches nicht bemerkt,
aber cs unbemerkt wieder anfzuheben, war nicht
möglich. Jetzt trat er an den Tisch; das Buch lag
beinahe zu seinen Füßen, mit dem nächsten Schritt
mußte er darauf stoßen. Plötzlich rief anscheinend
vom Vorplatz her eine Stimme recht dringend:

„Herr Inspektor, kommen Sie schnell einmal
heraus!"

Der Beamte wandte sich zur Thür, Burkhard hob
das Notizbuch rasch ans und ließ es verschwinden. In-
zwischen sahen sich der Inspektor und die Gensdarmen
verdutzt um. Es war Niemand da, der gerufen
haben konnte. — Trieb wirklich ein Kobold hier
sein Wesen?

Die Durchsuchung verlief resultatlos, trotzdem
wurden wir „sistirt", wie der Kunstausdruck für
eine vorläufige Verhaftung lautet. Man unterzog
uns einem kurzen, summarischen Verhör und hierbei
war es, wo die gehcimnißvolle Stimme zum dritten
Male zu unseren Gunsten eingriff. Als man uns
vorhielt, wir seien unter Anderm verdächtig, die
Most'jchc Freiheit abonnirt zu haben, tönte cs laut
und vernehmlich:

„Das hat der Stichlink gelogen."

Der Beamte fuhr erzürnt auf; Keiner von uns
hatte gesprochen, die Stimme kam mehr aus dem
Hintergründe des Lokals, Dort standen ein paar
arretirtc Handwerksburschen in stiller Ergebenheit;
die mußten es natürlich gewesen sein, denn wer sonst
hätte hier das Wort ergreifen können?

„Also Ihr steckt auch mit den Sozialdemokraten
unter einer Decke!" wurden sie angcdonnert. „Mit
Euch wird man morgen ein Wort reden!" Und
man führte die Beiden ab nach ihrem Nachtquartier.

Der Beamte, welcher uns verhörte, war übrigens
nachdenklich geworden, seit man den Namen Stichlink
genannt hatte. Er entließ uns mit dem freundlichen
Tröste, daß das Weitere die königliche Staats-
anwaltschaft besorgen werde.

So geschah es denn auch; wir wurden in den
nächsten Gehcimbundsprozcß eingereiht und es wurde
gegen uns das Zeugniß eines unbekannten Hinter-
mannes ins Feld geführt-. Als in der Gerichts-
verhandlung dieser Punkt zur Erörterung stand,
fragte der Präsident den als Zeugen erschienenen
Polizei-Inspektor:

„Von wem haben Sic diese Mittheilungen?"

„Von dem Mechaniker Stichlink!"

Diese rasche, präzise Antwort hatte aber nicht
der Inspektor gegeben, auch sonst Niemand. Wir
erkannten in ihr unsere gehcimnißvolle Geisterstimme.
Der Präsident, welcher in diesem Augenblick in den
Akten blätterte und nur halb hinhörte, nahm sie für
Ernst, während der Staatsanwalt gegen unberufene
Einmischung protcstirtc. Im Publikum war Sen-
sation.

„Sie haben also die Mittheilungeu nicht vom
Mechaniker . Stichlink?" fragte nun der Präsident,
um den Fall richtig zu stellen.

„Wenn der Name hier doch schon bekannt ist",
erwiderte der Zeuge, „so habe ich keinen Grund
 
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