54 KARL RORETZ.
fahrung entnommen! Und auch der »Zarathustra« weiß von solchem
Zusammenbrechen, das alle psychophysischen Teilsymptome in schreck-
hafter Deutlichkeit mit sich führt.
Relativ selten scheinen bei Nietzsche jene im engeren Sinn als
»sentimental« zu bezeichnenden Stimmungen aufgetreten zu sein, die
uns gewöhnliche Menschen so oft befallen und meistens so ergebnis-
los verlaufen. Als Beispiel dafür wäre immerhin das kleine Gedicht
auf den »Campo Santo di Staglieno« zu nennen, wo Nietzsche eine
(wie es scheint) geschmacklose Marmorgruppe mit einer etwas pathe-
tischen Grabschrift zu einem reizenden Zwitterding zwischen Spott
und Rührung umzuschaffen weiß. Es ist bezeichnenderweise in einer
doppelten Fassung erhalten: in einer mehr ironischen und einer mehr
rührsamen!
Einem Künstler, der das leicht affizierbare, rasch und heftig auf
und ab wogende Lebensgefühl Nietzsches besaß, mußte ein bestimmtes
Gebiet künstlerischer Darstellung als ureigenste Domäne zufallen: das
Gebiet der Naturschilderung.
In der Tat ist Nietzsche ein Naturschilderer allerersten Ranges!
Ein literarischer Landschaftsmaler vor allem, wie ihn die deutsche
Kulturwelt kaum zum zweitenmal hervorgebracht hat!
Er hat viele Farben auf seiner Palette: Gewaltiges und Liebliches
weiß er mit gleicher Kunst einzufangen! — Er schildert das Meer,
wenn am Nachmittag grünlichbraune Lichter über seinen Spiegel gleiten.
Er zeigt uns den Abend, wenn »das weiße Meer liegt eingeschlafen,
Und purpurn steht das Segel drauf«. — Aber auch die gewaltigeren
Akzente des Hochgebirgs sind ihm untertänig. Der berühmte Apho-
rismus 295 aus dem »Wanderer und sein Schatten« bezeugt es:
literarischer Impressionismus von unerhörter Kraft! — Doch auch den
intimeren Reiz der toskanischen Ebene stellt er meisterhaft dar: Alle
guten Geister Böcklins und Hans von Marees schauen ihm dabei über
die Schulter! Prächtig vermittelt er uns den Eindruck des venezia-
nischen Markusplatzes am Vormittag. Wie Taubengurren klingt der
Kehrreim »Mein Glück! Mein Glück!« in diesem kleinen Gedicht, das
uns die taubenumflogene Piazza vor die Phantasie bringt. — Alles
aber überbietet seine erstaunliche Schilderung der Wüstennatur. Man
kann das Frohlockend-Aufzehrende, mitleidslos sich im Dasein Erhal-
tende der Wüsteneinsamkeit nicht gewaltiger zum Ausdruck bringen,
als es seine drei Verse tun:
. . . Stein knirscht auf Stein, die Wüste schlingt und würgt,
Der ungeheure Tod blickt glühend braun
und kaut — sein Leben ist sein Kaun!
Hier ist der Wüstenzauber restlos ausgeschöpft.
fahrung entnommen! Und auch der »Zarathustra« weiß von solchem
Zusammenbrechen, das alle psychophysischen Teilsymptome in schreck-
hafter Deutlichkeit mit sich führt.
Relativ selten scheinen bei Nietzsche jene im engeren Sinn als
»sentimental« zu bezeichnenden Stimmungen aufgetreten zu sein, die
uns gewöhnliche Menschen so oft befallen und meistens so ergebnis-
los verlaufen. Als Beispiel dafür wäre immerhin das kleine Gedicht
auf den »Campo Santo di Staglieno« zu nennen, wo Nietzsche eine
(wie es scheint) geschmacklose Marmorgruppe mit einer etwas pathe-
tischen Grabschrift zu einem reizenden Zwitterding zwischen Spott
und Rührung umzuschaffen weiß. Es ist bezeichnenderweise in einer
doppelten Fassung erhalten: in einer mehr ironischen und einer mehr
rührsamen!
Einem Künstler, der das leicht affizierbare, rasch und heftig auf
und ab wogende Lebensgefühl Nietzsches besaß, mußte ein bestimmtes
Gebiet künstlerischer Darstellung als ureigenste Domäne zufallen: das
Gebiet der Naturschilderung.
In der Tat ist Nietzsche ein Naturschilderer allerersten Ranges!
Ein literarischer Landschaftsmaler vor allem, wie ihn die deutsche
Kulturwelt kaum zum zweitenmal hervorgebracht hat!
Er hat viele Farben auf seiner Palette: Gewaltiges und Liebliches
weiß er mit gleicher Kunst einzufangen! — Er schildert das Meer,
wenn am Nachmittag grünlichbraune Lichter über seinen Spiegel gleiten.
Er zeigt uns den Abend, wenn »das weiße Meer liegt eingeschlafen,
Und purpurn steht das Segel drauf«. — Aber auch die gewaltigeren
Akzente des Hochgebirgs sind ihm untertänig. Der berühmte Apho-
rismus 295 aus dem »Wanderer und sein Schatten« bezeugt es:
literarischer Impressionismus von unerhörter Kraft! — Doch auch den
intimeren Reiz der toskanischen Ebene stellt er meisterhaft dar: Alle
guten Geister Böcklins und Hans von Marees schauen ihm dabei über
die Schulter! Prächtig vermittelt er uns den Eindruck des venezia-
nischen Markusplatzes am Vormittag. Wie Taubengurren klingt der
Kehrreim »Mein Glück! Mein Glück!« in diesem kleinen Gedicht, das
uns die taubenumflogene Piazza vor die Phantasie bringt. — Alles
aber überbietet seine erstaunliche Schilderung der Wüstennatur. Man
kann das Frohlockend-Aufzehrende, mitleidslos sich im Dasein Erhal-
tende der Wüsteneinsamkeit nicht gewaltiger zum Ausdruck bringen,
als es seine drei Verse tun:
. . . Stein knirscht auf Stein, die Wüste schlingt und würgt,
Der ungeheure Tod blickt glühend braun
und kaut — sein Leben ist sein Kaun!
Hier ist der Wüstenzauber restlos ausgeschöpft.