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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 18.1925

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BESPRECHUNGEN. 243

wenn sich in der Literatur immer wieder zeigt, welchen Phantasien Tür und Tor
offen stehen. So sieht Kuhn im Denker Lehmbrucks »das Monument des reinen
Geistes, dessen Sieg die Eisner, Landauer, Toller und Liebknecht zu erringen hoffen,
in einer Welt sich blähender fetter Bäuche« (S. 115 f.). Der phrasenhaften Formel
nähert sich auch die immer wiederkehrende Gegenüberstellung der nordischen Un-
rast und der Sehnsucht nach dem reinen Sein romanischer Art (z. B. S. 64, 85, SS,
92, 94, 108, 119).

»Dieses Buch ist ein historisches und will es sein«, heißt es im Vorwort (S. 7),
in dem der Verfasser sich knapp und sachlich über das ausspricht, was er vor allem
bemerken zu müssen glaubte. Es wurde schon ersichtlich, daß der historische Cha-
rakter des Buches es nicht einengt auf den Nachweis überpersönlicher Entwicklungs-
abfolgen, persönlicher Entwicklungsstufen — die sehr reichlich eingetragen sind —,
geschichtlicher Wirkungen. Mit der genetischen Betrachtungsweise verbindet sich die
ästhetische. »Mit Hilfe von formalästhetischen, soziologischen und psychologischen
Überlegungen« versucht der Verfasser das künstlerische Schaffen und das Kunstwerk
selbst »als Produkt vielerlei zusammenwirkender Faktoren« (S. 8) aufzuzeigen. Nicht
restlos natürlich. Die soziologischen Ausführungen erscheinen mir am wenigsten
befriedigend (S. 17, 19, 24 f., 29, 34, 35, 47 f., 50, 61, 109 ff., 112 ff.). Sie legen zu
wenig die soziologische Struktur bloß. Es ist in ihnen zuviel vom Schlagwort. Vom
gotisch-mittelalterlichen Menschen war schon die Rede. Vom Menschen unserer
Tage heißt es: »Eine grundsätzliche Wandlung der Weltanschauung mußte voraus-
gehen. Der Mensch mußte zweifelnd werden an seiner Gottähnlichkeit, er mußte
demütig werden, seine eigene Entthronung bejahend. Die demokratisch-individua-
listische Lebensdoktrin des 19. Jahrhunderts mußte abwirtschaften . . . der nordisch-
reformatorischem Geiste im England des 17. Jahrhunderts entsprossene Individualis-
mus hatte in der französischen Revolution seinen Sieg und im Verlauf des 19. Jahr-
hunderts im westlichen und nördlichen Europa seine unangefochtene Herrschaft er-
reicht. Darwinismus, Kampf ums Dasein, Freihändlertum sind seine gesellschaft-
lichen Ausdrucksformen, Schwinden des religiösen Bewußtseins, der Philosophie als
Weltanschauung, der Synthese als konstitutives Element der Wissenschaft die geistigen.
Ende des Jahrhunderts beginnt das Gebäude der souveränen menschlichen Vernunft,
das Haus des unabhängigen individualistischen Geistes zu wanken. Kulturkampf,
Sozialistengesetz künden den nahen Umschwung. Neue Propheten stehen auf und
predigen mit ahnungsvoller Geste. Ibsen, ganz Kind seines versinkenden Jahrhunderts,
ahnt am Schlüsse seines Lebens das heraufziehende Neue. Strindberg fühlt es, aber
stark westlich orientiert, vollgesogen mit Säften einer alternden Kultur, fehlt ihm, wie
Wedekind, die innere Jungfräulichkeit, es ganz zu fassen. . . . Ungeheuer wächst neben
ihm Tolstoi empor. Er ist der Titane, der dem Jahrhundert Goethes den Krieg ver-
kündet. Dem individualistischen, in der Diesseitigkeit als in seinem unbedingten
Reiche feststehenden, und seiner Ergänzungsform, dem ästhetischen Menschen wird
der Streit angesagt, dem Menschen, dessen glänzendster Vertreter Goethe ist. Ihm
wird der rein ethische gegenübergestellt« (S. 112 f.). Das sind alles schon im literari-
schen Umlauf befindliche Dinge. Auch das, was im Anschluß daran über das neue
Geistige in der Kunst gesagt, wird, kann nicht genügen. Es heißt: »Was Tolstoi ge-
predigt hatte, vollstreckte die Kunst in instinktiver Notwendigkeit. Vernunft, Körper-
schmuck, alles wesentliche Teile der voraufgehenden Übung, fiel ab. Es blieb nur
der Ausdruck einer nach Entmaterialisierung, nach Aufgehen in Gott, strebenden
Sehnsucht« (S. 114). Da spielt Gott eine zu große, zugleich auch zu unbestimmte
Rolle. Ähnlich wie »Rausch und Ekstase« in der Welt und Kunst des gotischen
Menschen (S. 18, 110).
 
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