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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 18.1925

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BESPRECHUNGEN. 529

es werden. In der Romantik ist die Religiosität nicht mehr unmittelbare Religiosität.
Sie kann es auch nicht mehr werden. Und nun die Anwendung auf den Decadence-
begriff. Wo eine Bewegung weiter will, und sie stößt an überwindliche, nur histo-
rische Hindernisse, da entsteht die reformatorische Stimmung eines Aufschwungs. Wo
eine Bewegung dagegen weiter will, und sie stößt an unüberwindliche, prinzipielle
Hindernisse, da entsteht die Decadence. Die Decadence hat somit eine Nähe zum
Tragischen im Gegensatz zum Begriff des bloß Traurigen. Decadence ist not-
wendige, nicht zufällige Entwicklungshemmung. Das Decadenceproblem in diesem
Sinne wandert. Es ist für die heutige Musik akut. Ist eine Entwicklung der Musik
auf der bisherigen harmonischen Grundlage sachlich überhaupt noch möglich? so
lautet hier die Decadencefrage.

In dem Kapitel »Romantik und Wissenschaft- arbeitet Stefansky zwei Züge
höchst überzeugend heraus. Einmal setzt er die Romantik in ein näheres Verhältnis
zur Empirie und zum Realismus, als man es bisher gewohnt war. Und den Blick
für diese Seite konnte uns vielleicht nur ein Literarhistoriker schärfen, der, wie Ste-
fansky, den Vorzug hat, von den Naturwissenschaften herzukommen. Zweitens aber
meint Stefansky feststellen zu können: »Ein kräftiger Zug des logischen Denkens
und seine betonte, bewußte Beiordnung neben das Feld der Phantasie entfernt die
Frühromantiker allmählich vom klassischen Ideal!« Ist nicht aber gerade das klassi-
sche Wesen mit seinen Maximen und Sentenzen tief mit dem Rational-Logischen
verwachsen? Man wird das betonen müssen. Und doch hat Stefansky Recht. Denn
näher betrachtet, liegen die Dinge so: Klassik und Romantik verbinden beide Philo-
sophie mit Dichtung. Aber in der Klassik wird die Dichtung philosophisch, in der
Romantik die Philosophie dichterisch. In der Klassik greift Philosophie und Dich-
tung ineinander, denn ein- und derselbe Geist betreibt beide (Schiller). In der Ro-
mantik stehen beide nebeneinander, jeweils auf zwei Personen verteilt. Denn nur
Romantiker zweiten Grades sind zugleich ausgesprochene Philosophen und ausge-
sprochene Dichter. Endlich: die Philosophie, welche sich der klassischen Dichtung
einwebt, ist Moralphilosophie, Lebensweisheit, rationalistisch-aprioristisch. Die Philo-
sophie, welche sich in der Romantik neben die Dichtung setzt, ist Naturphilosophie,
Weltweisheit, empiristisch oder pseudo-empiristisch (Phantasie als Ersatz für Erfah-
rung, d. h. Magie). Mithin: der Klassik verbindet sich ein rationalistisch-philo-
sophischer Zug, der Romantik dagegen ein empiristisch-philosophischer Zug. Jeden-
falls ändern Stefanskys Forschungen das Bild des Romantikers dahin, daß gerade
er eher objektiv denkt, weil er historisch und organisch denkt, während der Klassiker
Subjektivist ist im Sinne der Kantischen a-prioristischen Subjektivität.

Beim Thema »Nationalgefühl und Ästhetik«: unterscheidet Stefansky sehr vorteil-
haft ein politisches und ein ästhetisches Nationalgefühl. Das ästhetische National-
gefühl beruht 1. auf dem Heimweh, 2. auf dem Verständnis für das Volksganze
als Organismus und 3. auf der idealen Verklärung, die das Volk dadurch erfährt,
daß es nur als Idee zu fassen ist: infolge seiner Größe. — Über Hölderlin äußert
Stefansky, daß in ihm eine große Neigung für Philosophie sich mit mangelnder
Fähigkeit auseinanderzusetzen hatte. Gerade auf philosophischem Gebiete, wo
Neigung und Fähigkeit noch oft verwechselt werden, ist die Erkenntnis, daß zumal
bei Dichtern philosophische Neigung ohne Fähigkeit nicht ganz selten vorkommt,
recht belänglich. Denn als Resultat einer solchen Neigung ohne Fähigkeit ergibt
sich eine gewisse Art von Mystik. — Anläßlich Wackenroders fällt die feine Beob-
achtung auf, daß durch ihn die Madonna inthronisiert wurde, während sein persön-
liches Ideal nicht die Frau, sondern der Freund war.

Stefansky ist ein Meister in der Gliederung großer Tatsachenmassen. Er hat

Zeitschr. f. Ästhetik u. allg. Kunstwissenschaft. XVIII. 34
 
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