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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 1.1906

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Landmann-Kalischer, Edith: Über künstlerische Wahrheit
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https://doi.org/10.11588/diglit.3529#0461

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XIX.

Über künstlerische Wahrheit.

Von
Edith Landmann-Kalischer.

1. Einführung.

Die deutsche Ästhetik ist auf den Gedanken, daß das Schöne und
die Kunst eine Art von Erkenntnis gebe, immer wieder zurückgekommen.
Zunächst war es die Naturwahrheit, welche man im Anschluß an die
von den Franzosen im 17. Jahrhundert wieder aufgenommene Nach-
ahmungstheorie von der Kunst forderte. Sie wurde von den Deutschen
im Anfange des 18. Jahrhunderts im Sinne eines platten Naturalismus
verstanden, an welchem der große Schöpfer jener Lehre so unschuldig
war wie Gott an dem Übel in der Welt. Nach dem Vorgange der
Franzosen verwarf man als unwahr den Reim und die Oper, da die
Menschen gewöhnlich weder in Versen zu sprechen noch zu singen
pflegen, und das Wunderbare in der Poesie erschien zur Zeit dieses
Wahrheitsfanatismus so wunderbar, daß ein Bodmer seiner Ver-
teidigung eine Schrift eigens widmen mußte.

Neben der Wahrheit im Sinne von Natürlichkeit der Darstellung
verlangte man von der Kunst und Poesie auch abstrakte Wahrheiten.
Die Poesie gehörte zu den schönen Wissenschaften. Sie war eine
ars popularis, bestimmt, Wahrheiten abstrakt-theoretischer oder mora-
lischer Art denjenigen Geistern zugänglich zu machen, welche eines
höheren, edleren, von den Sinnen abgezogeneren Ergötzens nicht fähig
sind, deren Verstand zu beschränkt ist, um das Mannigfaltige denkend
zur Einheit zu verknüpfen. »An höhern Glanz sich zu gewöhnen,
übt sich am Reize der Verstand.« Da die Handlungen der Menschen
auf Vorstellungen sich gründen, so ist Wahrheit den Menschen höchst
wichtig; alles, was die Künste vorstellen, muß daher auf Wahrheit
gegründet sein. Welt- und Menschenkenntnis sollen die Künste ver-
tiefen, eine freiere, gehobenere Auffassung und Betrachtung der Wirklich-
keit sollen sie lehren.

Selbst Baumgarten, der den großen Schritt tat, die künstlerische
Anschauung als eine Erkenntnis sui generis anzuerkennen, orientierte

Zeitschr. f. Ästhetik u. allg. Kunstwissenschaft. I. 30
 
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