Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 8.1913

DOI article:
Besprechungen
DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.3587#0107
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
BESPRECHUNGEN. 103

Freude das eine und das andere Mal auch nicht streng genommen auf dieselben
Elemente des Gegenstandes zu richten brauchen; es ist vielmehr beidemal nicht
nur ein anderer Zustand des Aufnehmens da, sondern man liest auch aus dem
Objekt je nach den verschiedenen Interessen verschiedene Elemente aus; jeder sieht
an der Mona Lisa anderes und zu verschiedenen Zeiten wieder Verschiedenes und
vielleicht hört jeder Wagnerische Musik anders; man muß es doch z. B. für wahr
halten, daß manche Menschen wirklich während des ganzen Tristan nicht von
erotischen Vorstellungen allersinnlichster Art loskommen.

»Ästhetisches Erlebnis und Anschaulichkeit« (Seite 9). Wieder
spaltet Hamann, was nicht zu trennen ist. Denn mir scheint das ästhetische Ver-
halten ohne sinnlich anschauliche Elemente nicht vorhanden zu sein (seien diese
selbst nur vom Betrachter nachträglich hinzugebracht, wie z. B. dann, wenn man
sich die innere Form eines wissenschaftlichen Buches oder eines philosophischen
Systems vorstellt: da sieht man etwa vor seinem inneren Auge gegliederte Massen).
Dieses besondere Verhältnis zur sinnlichen Anschauung hat für die Kunst unüber-
trefflich fein und tief einer der größten Kunstdenker des 19. Jahrhunderts, C. Fied-
ler, und doch nicht umsonst ausgeführt. Für seine Feststellungen muß fortan in
jeder Ästhetik ein Platz sein. Man kann über die Rolle der Anschaulichkeit
vielleicht streiten, man kann sie aber unmöglich als so unerheblich, ja als unnötig
beim ästhetischen Verhalten hinstellen wie Hamann das tut! Man versteht Fiedlers
Genialität nicht, wenn man nicht einsieht, daß er in erkenntnistheoretisch sicherster
Begründung wirklich eine Weltanschauung der Kunst, eine der großartigsten Kunst-
philosophien gegeben hat, die wir überhaupt kennen. Man kann anderer Meinung
sein als er, aber man kann nicht die Seite, die er genial formuliert hat, als un-
wesentlich bezeichnen. Fiedler war nebenbei der Freund einiger unserer größten
Maler im 19. Jahrhundert und der Theoretiker einer der einflußreichsten Kunstgruppen
der zweiten Hälfte des Jahrhunderts, der Marees-Hildebrandschen. Hildebrands
epochales Buch dann fiel (nach Wölfflins Wort) wie ein erfrischender Regen auf
dürres Erdreich. Nun, was in diesen Werken stand, das war die Botschaft von der
ästhetischen Sinnlichkeit, von der Sinnlichkeit, die wir freilich im nordischen Alltag
schier ganz und gar zu schätzen und auszubilden verlernt haben, und zu der uns
nur die Kunst wieder erziehen kann. Daß auch hier geistige Aktivität, wenn
auch von anderer Richtung als beim theoretischen Verhalten, vorhanden ist, zeigt
Fiedler vornehmlich, und das zeigt das Wort Anschauung besser als das Wort Sinn-
lichkeit (von der Gemütsnähe der sinnlichen Elemente nachher noch ein Wort). In
dieser Funktion nun ersieht man vielleicht auch klarer, als bei Hamann geschieht, für
die Kunst eine große Kulturmission für immer, keineswegs nur (aber allerdings be-
sonders) für unsere heutige verstandesmäßige und mechanisierte Kultur, und man sieht
eine große Provinz für das eigentümliche selbständige Leben der Kunst abgegrenzt.
Und dies alles gilt nicht bloß auf dem Gebiete der bildenden Künste; denn in der
Anerkennung des akustisch Sinnlichen in der Musik sind z. B. Hanslick und Friedrich
von Hausegger völlig einig, diese beiden, die vielleicht am deutlichsten die Pole
zweier Hauptrichtungen der Musikästhetik, ja der Musikauffassung und des Musik-
schaffens im ganzen 19. Jahrhundert repräsentieren; ihr Unterschied, daß der eine
mehr das Formale, der andere mehr den Ausdruck betont, liegt denn doch ganz
wo anders. Hamann freilich greift sofort auf die Dichtung zurück, spielt also einen
besonderen Fall aus; er gibt zu, daß der Klang oder das Schriftbild eine sinnliche
Gegenwart auch da ergebe; wenn er aber fortfährt: »das, was wir in ihnen begreifen
sollen, ist jedenfalls in dieser sinnlichen Gegenwart nicht enthalten, sondern durch
sie nur nahegelegt«, so würde ich weiterschließen: um soviel weniger unmittelbar
 
Annotationen