104 BESPRECHUNGEN.
ästhetisch ist eben die Dichtung, um so viel vermittelnder ist hier die Kunst der
Sprache. Wir kennen die originelle (aber einseitige) Theorie Theodor Meyers über
die Dichtung, aber auch sie kann an unserem Begriff des Ästhetischen nicht rütteln,
denn sie betrifft nur die reproduzierten anschaulichen Inhalte, von denen
Meyer freilich zeigt, daß man sie vielfach überschätzt hat. Hamann fährt weiter
fort: »Je konkreter, lebendiger und die Vorstellung des unmittelbaren Dabeiseins
erweckend, desto ästhetischer, künstlerischer wäre es. Aber auch das trifft nicht
zu.« In der Tat, daß es dennoch zutreffe, das ist unsere Meinung und ist übrigens
selbst die Meinung Theodor Meyers. Wenn diese Bestimmungen vielleicht zugleich
auf Schundliteratur zuzutreffen scheinen, so ist zu beachten, daß sowohl deren
Mittel wie Wirkungen dennoch andere sind, daß bei der Schundliteratur vor allem
eines fehlt, Geschmack, den Goethe neben der von ihm so hochgepriesenen
Phantasie für unerläßlich hielt (»Phantasie ohne Geschmack ist furchtbar«) und
schließlich, daß auch Hamanns Grundprinzip für sich noch kein Kriterium enthält,
um das »Drinsein« des Lesers und das Abgeschlossensein gegen die Interessen der
übrigen Welt, die Versenktheit und Versunkenheit bei sozusagen legitimen ästheti-
schen Erlebnissen zu unterscheiden von ähnlichen Wirkungen der Schundliteratur
oder auch des bloßen Schmökers. Da gibt noch eher unser Prinzip der sinnlichen
Vertiefung sofort von sich aus Handhaben, um beide Arten von Eindrücken aus-
einander zu halten: die sinnliche Vertiefung in das, was da ist, wird gerade davor
bewahren, einem hastigen, stoffhungrigen und von der Phantasie besessenen Jagen
beim Lesen zu verfallen und unter den dumpfen Druck der nur immer vorwärts-
treibenden Spannung zu geraten; diese selbe sinnliche Vertiefung aber, wenn
man sie als Leser bei Erzeugnissen der Schundliteratur versucht, wird deren
elenden Charakter schon ausreichend offenbaren. Bleiben wir indessen bei wirklich
großer Literatur, um Hamanns Prinzip zu illustrieren: Nach ihm wäre vielleicht
die Leistung Zolas nicht die großartige Anschaulichkeit, mit der er z. B. in Verite
das Toben und Schreien der Menge gibt oder sonst irgendwo große Kollektivwesen,
die uns gewöhnlich nur Begriffe bleiben, etwa ein Warenhaus zu dem einheitlichen
Bilde eines Organismus zusammenballt — was man, von anderer Seite angesehen,
auch als seine mythenbildende Kraft bezeichnet hat — sondern es wäre nach Hamann
vielleicht wieder die Fähigkeit der Isolierung, d. h. nun freilich nicht bloß, daß der
Leser in seinem Bann steht, sondern auch, daß der Dichter höchst realistische
Stoffe doch noch ohne Störung dem Leser darstellen konnte. Gewiß ist auch dies
letztere eine Leistung und eine, die gerade beim Naturalismus sehr fein sein kann,
das Schaffen der Distanz bei ganz alltäglichen Dingen; aber ist dieses Erträglich-
machen gewöhnlicher oder grober Stoffe nicht mehr nur eine Vorbedingung
und ist nicht in den meisten Fällen erst ein Positives, eine stärkere Freude, ein
Genuß das eigentliche Ziel? Auch jenes »Pathos der Distanz« kann einen feinen
Genuß bereiten, zumal im raffinierten Bewußtsein solcher Leistung, aber das Be-
tonen der sinnlichen Momente bedeutet doch wohl einen stärkeren Sinn für un-
mittelbare und positive Wirkungen der Kunst. Es sind dies möglicherweise letzte
Auffassungsverschiedenheiten nicht nur in der kunsttheoretischen Art, die Dinge
anzufassen, sondern im künstlerischen Erlebnis selber. Ein Kunstdenker von Ha-
manns Typ würde dann in der Kunst wesentlich eine Befreiung vom Leben sehen —
eine Richtung, die ihren Gipfel hatte in Schopenhauers Erlösungsästhetik, hingegen
der sensualistische Typ würde gerade das unmittelbare, elementare, vor- oder unter-,
jedenfalls außerbegriffliche Erleben, wie es das ästhetische Verhalten bietet, stark
empfinden und in erster Linie im Bewußtsein haben (ohne daß dieser letztere
Typ deshalb im geringsten die fundamentale Verschiedenheit der Kunst vom ge-
ästhetisch ist eben die Dichtung, um so viel vermittelnder ist hier die Kunst der
Sprache. Wir kennen die originelle (aber einseitige) Theorie Theodor Meyers über
die Dichtung, aber auch sie kann an unserem Begriff des Ästhetischen nicht rütteln,
denn sie betrifft nur die reproduzierten anschaulichen Inhalte, von denen
Meyer freilich zeigt, daß man sie vielfach überschätzt hat. Hamann fährt weiter
fort: »Je konkreter, lebendiger und die Vorstellung des unmittelbaren Dabeiseins
erweckend, desto ästhetischer, künstlerischer wäre es. Aber auch das trifft nicht
zu.« In der Tat, daß es dennoch zutreffe, das ist unsere Meinung und ist übrigens
selbst die Meinung Theodor Meyers. Wenn diese Bestimmungen vielleicht zugleich
auf Schundliteratur zuzutreffen scheinen, so ist zu beachten, daß sowohl deren
Mittel wie Wirkungen dennoch andere sind, daß bei der Schundliteratur vor allem
eines fehlt, Geschmack, den Goethe neben der von ihm so hochgepriesenen
Phantasie für unerläßlich hielt (»Phantasie ohne Geschmack ist furchtbar«) und
schließlich, daß auch Hamanns Grundprinzip für sich noch kein Kriterium enthält,
um das »Drinsein« des Lesers und das Abgeschlossensein gegen die Interessen der
übrigen Welt, die Versenktheit und Versunkenheit bei sozusagen legitimen ästheti-
schen Erlebnissen zu unterscheiden von ähnlichen Wirkungen der Schundliteratur
oder auch des bloßen Schmökers. Da gibt noch eher unser Prinzip der sinnlichen
Vertiefung sofort von sich aus Handhaben, um beide Arten von Eindrücken aus-
einander zu halten: die sinnliche Vertiefung in das, was da ist, wird gerade davor
bewahren, einem hastigen, stoffhungrigen und von der Phantasie besessenen Jagen
beim Lesen zu verfallen und unter den dumpfen Druck der nur immer vorwärts-
treibenden Spannung zu geraten; diese selbe sinnliche Vertiefung aber, wenn
man sie als Leser bei Erzeugnissen der Schundliteratur versucht, wird deren
elenden Charakter schon ausreichend offenbaren. Bleiben wir indessen bei wirklich
großer Literatur, um Hamanns Prinzip zu illustrieren: Nach ihm wäre vielleicht
die Leistung Zolas nicht die großartige Anschaulichkeit, mit der er z. B. in Verite
das Toben und Schreien der Menge gibt oder sonst irgendwo große Kollektivwesen,
die uns gewöhnlich nur Begriffe bleiben, etwa ein Warenhaus zu dem einheitlichen
Bilde eines Organismus zusammenballt — was man, von anderer Seite angesehen,
auch als seine mythenbildende Kraft bezeichnet hat — sondern es wäre nach Hamann
vielleicht wieder die Fähigkeit der Isolierung, d. h. nun freilich nicht bloß, daß der
Leser in seinem Bann steht, sondern auch, daß der Dichter höchst realistische
Stoffe doch noch ohne Störung dem Leser darstellen konnte. Gewiß ist auch dies
letztere eine Leistung und eine, die gerade beim Naturalismus sehr fein sein kann,
das Schaffen der Distanz bei ganz alltäglichen Dingen; aber ist dieses Erträglich-
machen gewöhnlicher oder grober Stoffe nicht mehr nur eine Vorbedingung
und ist nicht in den meisten Fällen erst ein Positives, eine stärkere Freude, ein
Genuß das eigentliche Ziel? Auch jenes »Pathos der Distanz« kann einen feinen
Genuß bereiten, zumal im raffinierten Bewußtsein solcher Leistung, aber das Be-
tonen der sinnlichen Momente bedeutet doch wohl einen stärkeren Sinn für un-
mittelbare und positive Wirkungen der Kunst. Es sind dies möglicherweise letzte
Auffassungsverschiedenheiten nicht nur in der kunsttheoretischen Art, die Dinge
anzufassen, sondern im künstlerischen Erlebnis selber. Ein Kunstdenker von Ha-
manns Typ würde dann in der Kunst wesentlich eine Befreiung vom Leben sehen —
eine Richtung, die ihren Gipfel hatte in Schopenhauers Erlösungsästhetik, hingegen
der sensualistische Typ würde gerade das unmittelbare, elementare, vor- oder unter-,
jedenfalls außerbegriffliche Erleben, wie es das ästhetische Verhalten bietet, stark
empfinden und in erster Linie im Bewußtsein haben (ohne daß dieser letztere
Typ deshalb im geringsten die fundamentale Verschiedenheit der Kunst vom ge-