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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 8.1913

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https://doi.org/10.11588/diglit.3587#0109
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BESPRECHUNGEN. 105

wohnlichen Leben oder von der Natur vergäße). Beide Seiten der Sache aber sind
wichtig.

Übrigens würden wir mit der unsrigen imstande sein zu zeigen, daß jene andere
gewiß außerordentlich wichtige Seite, die Hamann voranstellt, auch schon im sinn-
lichen Gebiet ein eigenes breites Leben hat, wo man z. B. gleichfalls wünscht, daß
einem das Realistische nicht allzu real »auf die Nerven falle« oder wo man noch
fähig bleiben will, sich sinnlich daran zu freuen oder sich ihm, ich möchte sagen,
mit sinnlicher Aufmerksamkeit zu widmen, ohne sinnlich abgeschreckt oder chokiert
zu werden. Ja, wir können sagen, daß gerade jener Zustand der interesselosen,
spielenden Aufmerksamkeit, der Betrachtung, die weder theoretische Beobachtung
noch praktische Prüfung ist, sich durch das Interesse für sinnliche Faktoren ergibt,
die eben den sachlichen Interessen eine gewisse Konkurrenz im Bewußtsein machen
und insofern die Stoßkraft des Stofflichen abschwächen! Auch so ergibt sich der
kontemplative Zustand, der seine Bezeichnung übrigens ja auch erst durch Über-
tragung erhalten hat. Also nicht bloß die eine ästhetische Eigenschaft, die direkte
und unmittelbare Wirkung, hängt mit der Sinnlichkeit zusammen und davon ab,
sondern auch die gerade entgegengesetzte, ebenso wichtige, die »fernende« Wirkung,
wird vom Sinnlichen unterstützt.

Hamann nimmt weiter das Beispiel eines Steckbriefes, der den Verbrecher so
sinnlich schildern soll, daß dem Leser alles lebendig vor Augen steht, was man ja
als möglich unterstellen kann, und meint, die Anschaulichkeit allein tue es nicht.
Nein, jede tut es nicht, diese Steckbriefsart z. B. wird, rein anschaulich betrachtet,
bei aller Genauigkeit, ja Lebendigkeit der Teile, gleichgültig bleiben, da sie
weder (kurz gesagt) aufs Schöne noch aufs Häßliche hin gearbeitet ist. Darauf
aber kommt's im Ästhetischen an: auf diese Zubereitung für unsere Sinne zu starken
Eindrücken, positiven oder negativen, denn beide sind ästhetisch. Das sinnlich
Langweilige hingegen oder das sinnlich gleichgültige Verhalten ist überhaupt nicht
ästhetisch. Denn ästhetisch ist ein besonders gesteigerter Zustand beschaulichen
Verweilens um des Schauens willen. Das Steckbriefprinzip aber ergibt Langeweile,
das genaue Beschreiben und Schildern ist in der Dichtung ja gerade als öde be-
rüchtigt und führt dort nicht zum Ziele. Es wird also auch beim Steckbrief nicht
zur Anschaulichkeit eines Ganzen führen, es wird nicht möglich sein, daß das
beabsichtigte Gesamtbild auch nur sinnlich lebhaft wirkt — worin ja immerhin schon
ein Sinnlichkeitswert liegen könnte, wenn auch erst ein rein quantitativer oder
intensiver, nicht qualitativer. Hamann seinerseits weist auf den Unterschied hin,
der hervortritt, wenn wir dieselbe Schilderung, die das eine Mal Steckbrief sei,
als Expositon eines Kriminalromans antreffen. In beiden Fällen solle man etwas
behalten (ja, aber beim Steckbrief zu einem praktischen Zweck, im Roman nur zum
Verständnis dieses Kunstwerks) und er schließt: »Danach ist es nicht die Anschaulich-
keit, die dieselbe Schilderung im Roman zum Teil eines ästhetischen Erlebnisses
macht, hier kommt es auf den ganzen Zusammenhang an.« Das letztere ist richtig,
nur kann man unter Zusammenhang wieder noch etwas anderes verstehen als er;
er denkt an jene spielende Haltung des Bewußtseins, man kann aber auch daran denken,
daß dasselbe Anschauliche das eine Mal Element für Element hingenommen wird
mit dem gefühlsmäßig indifferenten Bewußtsein, daß diese Kenntnisnahme
einen praktischen Zweck hat, während es das andere Mal mit Genuß an dieser
Anschaulichkeit als solcher, mit freudigen Sinnen also, aufge-
nommen wird.

Und weiter: »Die Anschaulichkeit und Abwesenheit aller Begriffe allein macht
es nicht. Ja, sie ist nicht einmal unumgänglich nötig. Es lassen sich aus Dichtungen
 
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