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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 8.1913

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https://doi.org/10.11588/diglit.3587#0297
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BESPRECHUNGEN. 293

stützen scheint. Aber es ist eben für die Philosophie stets schwer, anschaulich
klar zu machen, daß die Anschauung zur Weltanschauung nicht genüge, daß sie
vielmehr, um überhaupt selber sinnvoll zu sein, der Anhaltspunkte des Denkens als
ihres Korrelates nicht entraten kann. Es ist umso schwerer, wenn der hier
geforderte Begriff des Denkens nicht der alte reflexive Denkbegriff der formalen
Logik sein soll, sondern vielmehr der neue, den Kant im Begriff der Synthese fest-
gehalten, aber freilich nicht durchgeführt hat.

Soll in der Synthese des Denkens (bzw. des Bewußtseins) das Schema alles
Begreifbaren — und auch noch das des im einzelnen Undurchschaubaren, ohne
welches alle Anschauungsdaten sinnlos wären, was sie doch nicht sind — entworfen
werden, so kann man wohl sagen, das Denken oder das Bewußtsein erzeuge jenes
Schema, ohne dabei an das Erschaffen des jeweils in jenem Schema Realen im Sinne
der Weltschöpfung zu denken. Aber der Abweg zum Mißverständnis ist mit jener
Ausdrucksweise allerdings ermöglicht und wird bereitwillig von allen beschritten,
die, ohne den Blick für das Ganze, sich dem einzelnen gegenüber zur Kritik berufen
fühlen.

In der Ästhetik, die wirklich ein Erzeugen, nämlich das Erzeugen des Kunst-
werks behandelt, ist dies Mißverständnis nicht zu befürchten. Auch die Mißdeutung
des Bewußtseinsbegriffs als »bewußte Reflexion« ist hier unmöglich. Indem Cohen
das »reine Gefühl« zum Prinzip und Maßstab des ästhetischen Schaffens macht,
läßt er deutlich erkennen, daß sein Bewußtseinsbegriff mit der Enge eines forma-
listisch-logischen Rationalismus nichts zu tun hat. Und andererseits wird damit
deutlich, wie tief bei ihm der Begriff der Spontaneität und damit der Begriff der
Reinheit verankert ist. Der flach verstandene Rationalismus, den man heute so
gerne bekämpft, um dann mit vollen Segeln einem irrationalistisch-agnostizistischen
Fahrwasser zuzusteuern, hat keinen entschiedeneren Gegner als Cohen. Aber auch
der fast noch flachere Irrationalismus dürfte bei ihm keine Gnade finden, der heute
selbst bei ernsthafteren Denkern vielfach zur Sache einer betrüblichen Koketterie
mit der literarischen Mystik geworden ist. Indem sie vermeinen, Wunder wie tief
zu sein, wenn sie das künstlerische Schaffen, so gut wie die unreflektierte ethische
Entscheidung oder das religiöse Weltgefühl aus Tiefen stammen lassen, die der
Vernunft unzugänglich seien, trennen sie diese von jenen Tiefen, deren Dunkel doch
gerade in ihr zum Lichte strebt, und machen aus der ewigen Unvollkommenheit und
Ansatzhaftigkeit ihrer Werke, wie sie gerade der Idealismus von jeher betonte, eine
sie völlig entwertende Verfehltheit ihres Wesens.

Cohen gehört nicht zu diesen; er weiß, daß die Trennung der Vernunft von
einem »Tieferen« das alte Verführungsmittel zu Agnostizismus und Skeptizismus
bildet, mit denen man, unfähig, die Tragweite seiner Thesen zu bemessen, und
ohnmächtig, die Geister, die man rief, zu bannen, nicht nur die Wissenschaft ent-
wertet, nicht nur jede Möglichkeit fruchtbringender ethischer und ästhetischer Be-
sinnung in Frage stellt, sondern überhaupt allen Überzeugungen, die man über die
letzten Dinge vertreten mag, die allgemein verbindliche Sicherheit nimmt; so daß,
wie die Romantik in offener Auflehnung gegen die Vernunft es von jeher vertreten
hat, für solchen bewußten und ausgesprochenen Irrationalismus nur Autorität, Offen-
barung, Überlieferung als einzige Anhaltspunkte der Orientierung übrig bleiben.

Ist man aber einmal an diesem Punkte angelangt, so wird alsbald die Intuition
in allen ihren Formen, von der Phantasie aufwärts bis zur intellektuellen Anschauung,
gegen die wissenschaftliche Vernunft ins Feld geführt. Ihr Werk ist dann in einem
unerforschlichen, die Ästhetik als Wissenschaft ausschließenden Sinne, die Kunst,
und — in noch größerer Vertiefung — die Religion. Die Kunst wird so, als Dienerin
 
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