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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 8.1913

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Tenner, Julius: Über Versmelodie, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.3587#0377
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ÜBER VERSMELODIE. 373

gehörende Gestalt ist. Man könne unmöglich glauben, meint Engel,
daß Beethoven die Melodie von jeder dieser vier Personen auf ganz
dieselbe Weise gesungen haben wollte. Freilich dürfe an dem Tempo,
an dem Rhythmus und an dem wesentlichen Verhältnis der Betonungen
nichts geändert werden; »aber dem Sänger bleiben noch genug an-
dere Mittel übrig, um durch individuellen Ausdruck eine
Melodie zu beleben«. Welcher Art diese »anderen Mittel« sind, die
bei unveränderlichem Tempo und Rhythmus, unveränderlicher Melodie
und Betonung dem »individuellen Ausdruck« der jedesmal veränderten
Gefühlswerte dienen, — darüber gibt Engel keinen Bescheid. Es bedarf
nach dem Vorhergesagten wohl keines weiteren Nachweises, daß sie
einzig und allein in den emotionellen Klangfarbenschätzen des mensch-
lichen Sprachorgans zu suchen sind, über welche die Singstimme
ebenso zwanglos verfügt wie die Sprechstimme.

Daraus erhellt, daß Sprach- und Vokalmusik vom Standpunkt der
Gefühlsästhetik ein überaus wichtiges Ausdrucksmittel, den emotionellen
Klangfarbenreichtum der menschlichen Stimme, miteinander gemeinsam
haben, das der Instrumentalmusik abgeht. Der heftige Kampf, der
wegen der bekannten, von Hanslick aufgeworfenen Probleme noch
immer nicht ganz zur Ruhe gekommen ist, wäre vielleicht gar nicht ent-
brannt, wenn man von diesem Gesichtspunkte aus zwischen Vokal- und
Instrumentalmusik genauer unterschieden hätte. Die ältere Ästhetik
ging bekanntlich vom Grundsatze aus, die Musik sei nicht nur einer
direkten Darstellung, eines Ausdrucks von Gefühlen fähig, sondern
könne auch einen außermusikalischen Inhalt haben. Dieser Anschauung
stellte Hanslick die neue Lehre entgegen, wonach die Musik nicht
unmittelbar die Gefühle selbst, sondern bloß ihre Dynamik, ihren Ver-
lauf und ihre Bewegung darzustellen befähigt sei. Demnach seien
»tönend bewegte Formen« (der Vergleich mit der »Arabeske«) aus-
schließlich^ Gegenstand und Inhalt der Musik, und das spezifisch
Musikalisch-Schöne, das in ihnen liege, gelange dem Hörer gar nicht
vermittels des Gefühls, sondern durch die Phantasie zum Bewußtsein.
Weder Gegner noch Anhänger Hanslicks unterschieden hierbei
zwischen Vokal- und Instrumentalmusik. Diese Differenzierung hätte
aber dem ganzen Streit von vornherein den Boden entzogen. Schließ-
lich hat ja auch Hanslick in den »tönend bewegte Formen« keine
leeren, aus dem ganzen Seelenleben herausgehobenen, isolierten Formen
gesehen. Es war ihm vielmehr stets um die beseelte Form zu tun,
die die Instrumentalmusik durch assoziative Hilfsmittel, wiewohl sie
der emotionellen Klangfarben schätze entbehrt, wohl zu erzeugen im-
stande ist.
 
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