Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 8.1913

DOI article:
Tenner, Julius: Über Versmelodie, [2]
DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.3587#0400
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
396 JULIUS TENNER.

gebenes auf den Vortragenden einen Zwang zu richtiger Wiedergabe
ausüben, bedarf bei dieser Voraussetzung nicht erst bewiesen zu
werden.

7.
Meine Erwägungen zusammenfassend, muß ich zunächst feststellen,
daß jedes dichterische Sprachklanggebilde seine einheitliche Gesamt-
wirkung drei Hauptelementen verdankt, die in unlösbaren Wechsel-
beziehungen zueinander stehen. Diese drei Hauptelemente sind:
Rhythmus, Betonung und Klangfarbenspiel. Auch in der
Tonmusik arbeiten an der Organisierung ihres Klangmaterials drei
Hauptelemente mit, nämlich: Rhythmus, Harmonie und Melodie
(Tonhöhenfolge). Gemeinsames Hauptelement ist bloß der Rhythmus,
wiewohl auch dieser anderen Grundsätzen in der Sprache folgt, als
in der Musik J). Die übrigen zwei Hauptelemente des einen Systems
sind aber Nebenelemente des anderen. Betonung und Klangfarben-
bewegung spielen in der Tonmusik eine wichtige Rolle, ohne daß sie
den Gesamteindruck eines Musikstückes wesentlich zu beeinflussen,
seinen Charakter zu ändern imstande wären. Ganz dasselbe läßt sich
von Harmonie und Melodie in der Sprachmusik sagen. Von Har-
monie kann insofern auch in der Sprachmusik gesprochen werden, als es
ja auch in Sprache und Dichtkunst Vielstimmigkeit gibt, das gleichzeitige
Zusammensprechen zweier oder mehrerer Menschen, wovon sowohl
das Leben selbst wie auch die klassische griechische Tragödie ebenso
wie die moderne dramatische Dichtkunst zahlreiche Beispiele liefern.
Ebenso weist die Sprachmusik unzweifelhaft auch Tonhöhenbewegung
auf, also Melodie im tonmusikalischen Sinne, wiewohl sie sich weder
an fest bestimmte Tonhöhen noch an bestimmte Intervalle bindet,
sondern nur relative Tonverhältnisse aufweist, Tonschritte, die bald
der Richtung (Steig- und Fallschritte), bald der Größe nach wechseln.
Diese Tonhöhenverhältnisse, die einerseits in den Eigentönen der Vo-
kale, anderseits in der Satzmelodie, das ist in der Tonführung von
Wortreihen, die zu Sätzen und Perioden nach bestimmten Grund-
sätzen einer Klangarchitektonik gebunden werden, schließlich in der
Anwendung besonders großer Intervalle bei einzelnen Worten oder
Sätzen nach der Höhe oder nach der Tiefe zu ihren Ausdruck finden,

:) Es liegt außerhalb des Rahmens dieser Arbeit, auf die grundsätzlichen Unter-
schiede der Rhythmik des Sprechverses und derjenigen der Tonmusik weiter einzugehen.
Es sei hier diesbezüglich auf die grundlegenden Arbeiten von Ed. Sievers, Saran,
Minor verwiesen. Vollständige Spezialliteratur in den Jahresberichten für neuere
deutsche Literaturgeschichte, Berlin, B. Behr. Eine Geschichte der metrischen For-
schung seit den siebziger Jahren gibt F. Saran in: Ergebnisse und Fortschritte der
germanistischen Wissenschaft, S. 158—187. Leipzig, Reisland, 1902.
 
Annotationen