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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 8.1913

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Dessoir, Max: Über das Beschreiben von Bildern
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https://doi.org/10.11588/diglit.3587#0455
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ÜBER DAS BESCHREIBEN VON BILDERN. 45 j

Himmel in einer Thomaschen Landschaft nur einmal erwähnt — und
dabei nimmt er nahezu die Hälfte des Raums ein und enthält eine
große Wolke.

4.
Auf die erste Apperzeption folgt eine zweite und auf diese eine
dritte. Trennt man sie durch längere, mit Tätigkeit ausgefüllte Pausen,
so tötet man alle zarteren Übergänge und zwingt den Beschreibenden
zu Wiederholungen, Verbesserungen und anderen Maßnahmen, die bei
einer regelrechten Beschreibung entfallen. Immerhin kann aus solchen
Aufzeichnungen mancherlei entnommen werden1): es muß sich zeigen,
in welchen Stufen und nach welchen Richtungen hin die sprachliche
Darstellung eines Bildes vorwärts dringt.

Als Unterlage für die nun folgenden Erwägungen greife ich die Beschreibungen
von Carrieres Bild »Les adieux« heraus (siehe Tafel 3). Versuchsperson A:

»1. Breitformat. Malerische Komposition. Die Mitte wird von einer hellen
Fläche, einem nackten Frauenkörper (?) eingenommen, rechts etwas erhöht ein
jugendlicher, dunkler Kopf mit weichen, rundlichen, nicht sehr charakteristischen
Zügen, links unten ebenfalls ein Kopf.

2. Der weibliche Körper, den ich vorhin zu erblicken glaubte, gehört zu einer
nackten Frau mit nach rechts gewandtem edlen Profil, schwarzem, griechisch ge-
scheiteltem Haar, die sich mit dem Ausdruck von Angst über einen nackten Körper
beugt. Links unten, unter ihr, steht ein Kind mit rundem Kopf und schwarzem
Haar. Der malerische Effekt beruht auf dem Kontrast der hellen Körper gegen
den dunklen Hintergrund und bei den einzelnen Gestalten auf dem Gegensatz
zwischen dem Weiß der Körper und dem Schwarz der Haare.

3. Bei der Figur im Mittelgrunde, die mir zuerst nur ein Körper schien, er-
kenne ich jetzt ein Gesicht, und diese Gestalt und eine andere Frau küssen ein-
ander. Die Gestalt links unten, die mir vorher ein Kind schien, scheint mir jetzt
ein Mädchen von etwa 16 Jahren mit einer Kopfbedeckung, Haube oder Kappe,
die sich eng der Kopfform anschmiegt. Französischer Meister des 19. Jahrhunderts.«

Verhör: »Die dritte Figur von links und das Kind habe ich nicht gesehen.
Die weibliche, am meisten linksstehende Gestalt zu sehr nach unten verlegt.«

Versuchsperson B: »1. Einem Werk von Carriere ungemein verwandt, nicht
durch Stoff oder Handlung, sondern durch die künstlerische Handschrift, die alles
Geschehen wie unter Schleiern zeigt, traumhaft verwischt, entwirklicht. Haupt-
akzent die weibliche Gestalt mit dem matt leuchtenden Hals und Busenansatz,
nach rechts kompositionell verbunden mit einer andern Gestalt.

2. Jetzt ganz klarer Eindruck der formalen Lösung: Ein breites Band von rechts
oben nach links unten, im ganzen vier Gestalten, von denen die rechts oben und

') Die Versuche mit Kindern sind bisher nicht recht ergiebig gewesen. Kinder,
die über Teilangaben von Dingen, Handlungen und Eigenschaften hinausgewachsen
sind, kommen in das sogenannte Relationsstadium und vielleicht noch darüber
hinaus in das »kritisch-reflektierende Stadium«; auf diesen beiden Stufen bemühen
sie sich um eine logisch-inhaltlich geordnete Wiedergabe des Gesehenen. Vgl.
J- Cohn und J. Dieffenbacher, Untersuchungen über Geschlechts-, Alters- und
Begabungsunterschiede bei Schülern, 1911, S. 95 ff.
 
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