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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 8.1913

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https://doi.org/10.11588/diglit.3587#0471
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BESPRECHUNGEN.

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weiterem Umfange seines Dichtertums begriffen, gefühlt, nachbildend anverwandelt
wird, den Stil der deutschen Dichtung beeinflußt. Alle Wirkungen außerdichte-
rischer Art erscheinen notwendig nur als Stufen, Etappen dieser entscheidenden
Wirksamkeit. Es ist klar, wie in der Geschichte dieses Prozesses auch das auf-
nehmende Element, der deutsche Geist, vor allem nach der Entwicklung der spe-
zifisch dichterischen Kräfte in den führenden, für jene Aufnahme bestimmenden
Geistern, betrachtet wird, und daß diese hier entscheidende Seite ihres Wesens
scharf abgehoben wird von dem Grunde ihrer allgemeinen geistigen Haltung.
Durch solche Betrachtweise aber wird nun das Buch, abgesehen von seinem Wert für
die Ästhetik, obwohl es nicht Forschung ist, sondern Darstellung, überhaupt etwas
ganz Neues und Einziges im wissenschaftlichen, insbesondere im literarhistorischen
Schrifttum der Gegenwart. Es bedeutet eine Wendung, denn es leistet das, was
leider bislang bei weitem nicht so, wie es sein sollte, Voraussetzung jeder literar-
historischen Arbeit ist: es führt die Literaturgeschichte ihrer höchsten Bestimmung
entgegen: nämlich Dichtungsgeschichte zu sein. Und es vermag das, weil der Ver-
fasser ein absolut sicheres Verhältnis zur Dichtung hat. Als Tendenz, Absicht,
Einsicht ist dergleichen heute freilich vielfach spürbar und wohl auch im einzelnen
verwirklicht. Aber in Gundolfs Buch — und das ist vielleicht seine stärkste Qua-
lität — ist nichts Ansicht und Absicht, was nicht zugleich Erfüllung und Leistung
wäre. Dies Werk kommt aus der Fülle, und die leidenschaftliche Freude am
Aussprechen eines lang gehegten Reichtums ästhetischer Erlebnisse und Erkennt-
nisse gibt ihm den Charakter. Dieser innere Überfluß hält denn dem Buch, das
doch mit Beherrschung aller wissenschaftlichen Methodik geschrieben wurde und
das Material nach allen Seiten durchdringt, jeden Hauch wissenschaftlicher Mühsal
fern. Hier wird um das Darzustellende nicht mehr gerungen: hier ist Besitz, Aus-
teilen und Verschwenden. Das gibt dem Buch sein fortreißendes Tempo, aber es
gibt ihm als Ganzem doch noch ein anderes, das oft in Büchern fehlt, die mit
geistiger Leidenschaft geschrieben sind, aber mehr aus Mitteilungsbedürfnis und
Wirkungswillen stammen als aus dem Forschungstriebe: es sättigt es bis zum
Rande mit Sachgehalt, es erlaubt nicht, daß der Wille des Schriftstellers wie ein
heißer, leerer Sturm über die Dinge hinfährt.

Klar ist: bei einmal so gestellter Aufgabe war die erste Vorbedingung des
Gelingens ein sicheres Bild von Shakespeares Dichtertum. Es brauchte nicht an
irgendeiner Stelle des Buches als Ganzes ausgebreitet zu sein; aber es mußte
immer gleichsam unsichtbar gegenwärtig sein, bereit, im notwendigen Moment ent-
scheidend hervorzutreten, wo es gilt, die theoretische Auffassung Shakespeares und
seine praktische Wirkung in Übersetzungen oder eigenen Schöpfungen zu werten.
Es gilt für uns also zunächst diesen verborgenen, aber wirksamen Gehalt des Buches
zu charakterisieren: Gundolfs ästhetischen Standpunkt zum Dichte-
rischen und zu Shakespeares Dichtertum insbesondere.

Gundolf hat ein ganz nahes lebendiges Verhältnis zum Dichterischen. Ihm ist
natürlich, was vor einem Gedicht noch viel seltener geübt wird als vor einem Bild-
werk: er betrachtet alles Inhaltliche, Psychologische, technisch Formale sofort als
Träger und lebendige Ausgestaltung der seelischen Grundbewegung, die das eigent-
•iche, schöpferische Leben ist, und das Ganze ist ihm eine künstlerische Klärung
der Welt, die nur von jener Grundgewalt aus zu begreifen ist. Ein Beispiel dafür
sei etwa die gleich im ersten Kapitel gegebene Romeo-Analyse (S. 41 f.).

»Das erotische Pathos . . . hatte sich im Romeo Shakespeares eine seiner un-
vergänglichen Formen geschaffen, einen Mythus, der die Phantasie immer bannt.
Die Gartenszene und die Balkonszene sind die Sinnbilder dieses Mythus von der
 
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