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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 8.1913

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https://doi.org/10.11588/diglit.3587#0472
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468 BESPRECHUNGEN.

selig-unglücklichen Liebe, so wie Shakespeares glühender Atem beide gefüllt hat.
Dies sind die beiden dichterischen Brennpunkte des Werks, die Träger seines
Gehalts, hier ist die ganze Essenz zusammengepreßt, das übrige ist nur Handlung,
Schicksal, Begebenheit — Vorbereitung, Brennstoff, Beleuchtung oder Folge, Ent-
wicklung, Abklang dieser Szenen. Denn bei Shakespeare ist die ganze Feindschaft
der Häuser — mit wie strotzendem Leben und sinnlicher Fülle auch gegeben, vom
Bedientenzank bis zum Fall Tybalts — der Ball mit Klingklang und Hader, die
Werbung des Paris, nur deshalb da, daß Romeo und Julia sich finden und so finden
wie in der Gartenszene: mit aller selig-schrankenlosen Sinnlichkeit und Verliebtheit
hineingestellt in eine Gegenwelt von Schranken. Das flutende Glück der Sommer-
nacht einbrechend in die Familienenge und von ihr eingezäunt. Bis in die Concetti
Romeos hinein wallt hier rhythmisch die Verzückung zweier Seelen, die sich entgegen-
strömen durch ein hartes Bett äußerer Widerstände. Durch das Fluten selbst sind
die Widerstände, durch die Widerstände das Fluten gezeichnet, sich gegenseitig
bedingend, steigernd, hemmend und vernichtend, und ebenso ist Romeos Kampf mit
Tybalt, sein Bann, seine Ehe mit Julia nur Mittel und Weg, damit die Balkonszene
so als die Darstellung des innigen Besitzes und der trostlosen Beraubung, der Einung
und der Trennung, des inneren Siegs und des äußeren Untergangs wirken kann.
Denn was folgt, ist selbst bei Shakespeare Zugeständnis an das Theater, dichte-
rische Auswickelung von Begebenheiten, die als Substanz bereits in der Balkonszene
enthalten waren. In den Versen ,Mich dünkt, ich sah dich, da du unten bist, als
lägst du tot in eines Grabes Tiefe' ist bereits der Tod der Liebenden und ihre
Unzertrennlichkeit beschlossen, ist der Schluß vorweggenommen . . .«

Wenn das Eingeweihtsein in Shakespeare den Übersetzer Gundolf befähigte,
mit seinem deutschen Vers den des Vorbildes wahrhaft nachzuleben, daß er bis in
die Pausen, bis in die Metaphern, die Wortgestalt, ja bis in die Lautwahl hinein
seelische Bewegtheit lebender Menschen spiegelt, und zwar solcher, die Shake-
speareschen Wuchses sind'), wenn sich diese Sprache gleich der des Urbildes unab-
lässig »geberdet«, so ist es, weil er die in allen vorhandenen Graden der Gestalten
und Lebensprozesse (nicht über sie hinweg) einheitlich strömende Leidenschaft
erfaßt hat. Daß von dieser innersten Seele des Shakespeareschen Dramas, die in
immer anderen Formen und Dichtigkeitsgraden immer die gleiche ist, der Sprach-
leib in jedem Gliede bewegt wurde, ist die große Leistung dieser Übersetzung,
und daß damit Shakespeares unbefangenes, dingliches, mächtiges Gefühl von Welt
und Mensch in jedem Satze heraufkam. Das gleiche Vermögen macht nun auch
Gundolfs Analysen bezwingend. Er spürt jenen Urstrom nicht nur in dem Mit-
einander und Gegeneinander der Menschen bis in ihre Haltung und Geste, er be-
greift dies als die Kraft, die das Ganze baut, deutet von hier die Ponderation
der Szenen, wie seine Übersetzung von hier aus die des Satzes nachempfand2),
und weiß von hier, wo die am meisten vom persönlichen Leben bewegten, also die
dramatischsten Szenen sind. So bedeutet denn auch sein Hinweis auf die Szenen
in Romeo und Julia, die sinnbildliche Mittelpunkte der poetischen Vision sind, nicht
nur schauspielerisch-dramatische Wirkungszentren, viel für jeden, dem es um Er-
kenntnis des Lebensgesetzes Shakespearescher Werke zu tun ist. Denn im Gegen-
satz zu einem anderen Dramentyp (Lessing, Hebbel, der mittlere Ibsen), wo das
rein struktive Element in der einen oder anderen Weise den Vorrang hat, wo das

') Siehe dazu: Erwin Kalischer, Zeitschr. f. Ästhetik u. allg. Kunstwissenschaft
(1910), S. 111-118.
2) Siehe a. a. O. S. 114.
 
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