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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 8.1913

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https://doi.org/10.11588/diglit.3587#0612
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BEMERKUNGEN. 605

hin, offenbart sie ihm vielleicht die rasche, drängende, schwellende Sinnlichkeit der
Erde. Die Eigenart des ästhetischen Eindrucks geht dabei letzthin auf völlig sub-
jektive Momente zurück, und doch läßt sich die eine Einstellung gegenüber der
anderen nicht als unangemessen oder unberechtigt zurückweisen. Und diese Mög-
lichkeit zahlreicher verschiedener, an sich gleichberechtigter Einstellungen gegen-
über dem gleichen Wirklichkeitskomplex erscheint dem Vortr. die Hauptsache; anders
ausgedrückt: die Bindung bei Natureindrücken ist eine wesentlich geringere als
angesichts von Kunstwerken, wenn diese Kunstwerke wahrhaft erlebt werden sollen.
Damit ist nicht gesagt, daß jede Bindung entfällt — schon die gegebenen Farben
und Formen haben ja einen gewissen Ausdruckswert —, wohl aber, daß diese Bin-
dung nur den Erlebensansatz fixiert, jedenfalls nicht aber den gesamten Erlebens-
komplex, daß selbst, wenn ihr völlig nachgegeben wird, die verschiedensten Ein-
stellungen und die aus ihnen hervorgehenden Ergebnisse als gleichberechtigt neben-
einander treten. Dadurch, daß es in erhöhtem Maße also eigenes Leben ist, mit
dem hier Farben und Formen erfüllt und durchtränkt werden, erfolgt häufig eine
überaus innige Hingabe an die Eindrücke, und dann jenes so oft gepriesene »Sich-
finden in der Natur«, jener anscheinend so seltsame und so beseligende Zusammen-
klang von eigenem Leben und Naturleben, der die letzte Ursache für zahllose
pantheistische und mystische Strömungen darstellt; dazu kann sich noch eine
ganze Reihe von Schöpferfreuden gesellen. Ganz verschieden gestaltet sich nun
aber der »künstlerische« Naturgenuß, wenn man überhaupt dieses Ausdruckes sich
bedienen darf. Hierbei wird nicht die Naturwirklichkeit genossen, sondern in die
Bedingungen einer bestimmten Kunst umgesetzt; Genußgegenstand wird das ge-
meinte Kunstwerk. Wird die Natur mit den Augen eines beliebten Künstlers gesehen
— etwa der Grunewald in Leistikowmotiven, oder das Hochgebirge nach Segantini-
Art —, dann genießt der Betrachter überhaupt nur Bilder, und gar nicht die Natur.
Auch auf die Fälle ist hinzuweisen, bei denen die Natur ebenso als Schöpfung eines
Schöpfers aufgefaßt wird, wie das Kunstwerk als Leistung des Künstlers, wobei
dann nicht die Naturerscheinung Genußobjekt ist, sondern die ungeheure und be-
wunderungswürdige »Kunst«, die zur Hervorbringung der Wirklichkeit gehört. Die
»technische« Leistung wird demnach hier genossen. In allen diesen Fällen kann
von einem eigentlichen Naturgenuß nicht die Rede sein, denn überall ist er hier
schon kunstdurchsetzt, nicht mehr rein in seiner Eigenart. Wo aber der erstere
Typus eintritt, da kann man sagen, daß alle Natur gleich schön sei, oder besser,
daß an sich alle Natur gleich geeignet sei, ästhetisches Erleben auszulösen; denn
von der schöpferischen Veranlagung des Betrachters hängt es ab, ob er die vorge-
setzten Eindrücke mit einheitlichem ästhetischem Ausdruck zu erfüllen vermag. Hier
stoßen wir auch auf den Sinn, in dem es allein berechtigt ist, von unangemessenen
Einstellungen der Natur gegenüber zu sprechen. Alle Einstellungen sind unbe-
rechtigt, bei denen nicht die wirkliche Gesamterscheinung Genußgegenstand wird,
sondern bei denen gewisse Züge herausgerissen werden, nach denen sich dann die
anderen richten sollen. Entstehen dann zerrissene, uneinheitliche Natureindrücke,
so hat es eben der Betrachter nicht verstanden, sie als Einheit zu erfassen. Und
s° kann man letzthin vielleicht zwei extreme Typen anerkennen, wenngleich die
Wirklichkeit sie nicht in vollster Reinheit ausprägt und durch gleitende Übergänge
zwischen ihnen vermittelt: einerseits den »Naturmenschen«, der der Kunst gegen-
über sich beengt und beklommen fühlt, minder persönlich beteiligt, und den »Kunst-
menschen«, der überhaupt den Weg zur Natur nicht findet, weil er aus dem Reich
der Kunst nicht herauskommt. — In der Diskussion wird hauptsächlich darauf hin-
gewiesen, daß doch die Grenzen zwischen Natur- und Kunstgenuß ganz fließende
 
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