380 JULIUS TENNER.
bezug auf die Gewalt des Ausdrucks, die kontrapunktische Mehr-
stimmigkeit, die akkordischen Zusammenklänge zurückbleiben: hin-
sichtlich der Meisterschaft ihres natürlichen Musikinstrumentes, das ihr
den unermeßlichen Klangfarbenreichtum eines wunderbar vollkommenen
Ansatzrohres zur Verfügung stellt, steht sie unerreicht da. Diese Voll-
kommenheit ist bei Erforschung des Wesens der Sprachmusik bisher
fast unbeachtet geblieben. Das lebendige Klangfarbenspiel der mensch-
lichen Stimme, das täglich mit tausend Zungen an unser Ohr dringt
und mit naiver Unbefangenheit aufgefangen und in seinen zahllosen
feinsten Nuancen verstanden wird, verhallte unbeachtet an den scharfen,
bewaffneten Ohren der wissenschaftlichen Forschung. Es scheint, als
wäre man geradezu mit Klangfarbenblindheit geschlagen gewesen.
Und dieser eigenartige Daltonismus, verbunden mit der Begriffsverwir-
rung, die der allgemeine Sprachgebrauch des Wortes »Melodie« zur
Bezeichnung der musikalischen Reize des Sprachklanges angerichtet
hatte, stellte sich der wissenschaftlichen Erforschung dieser Reize ent-
gegen. Abgestumpft durch langjährige Gewöhnung, überhörte man,
was man täglich und stündlich immer wieder zu hören bekam, und
schenkte dem ans Wunderbare grenzenden Phänomen, dem lebendigen
Klangfarbenkaleidoskop der menschlichen Stimme, keine weitere Be-
achtung. In diesem Phänomen liegt aber gerade der Schlüssel zur
Lösung des Problems der Versmelodie, im Sinne der tiefen Aristote-
lischen Wahrheit, wonach der Urgrund der Dinge gleichzeitig auch
ihr Zweck sei.
Daß der Klangfarbenfolge in der Sprachmusik dieselbe ausschlag-
gebende charakteristische Rolle zufällt, wie sie die Tonhöhenfolge in
der Tonmusik spielt, wird so recht augenfällig bei Betrachtung des Ver-
hältnisses der produzierenden zur reproduzierenden Kunst in den
beiden Tonsystemen. Wir haben gesehen, daß der der individuellen
Art und persönlichen Auffassung des Vortragenden eingeräumte freie
Spielraum in beiden Tonsystemen nur in einer einzigen Beziehung
vollständig aufgehoben erscheint, und zwar in derjenigen, in welcher
der reproduzierende Künstler strengstens an die vom Schöpfer des
Kunstwerkes selbst auf das genaueste festgestellten, diesem immanent
anhaftenden Werte gebunden ist. Dieses vom reproduzierenden
Künstler unabänderlich wiederzuerzeugende Element aber ist die
Intervallfolge in der Tonmusik und die Klangfarbenbewegung in der
Sprachmusik. Man hat einmal die Melodie die Poesie in der Musik
genannt; in Anbetracht dieses Rollenwechsels könnte man das Klang-
farbenspiel mit gleichem Recht als Musik in der Poesie bezeichnen.
bezug auf die Gewalt des Ausdrucks, die kontrapunktische Mehr-
stimmigkeit, die akkordischen Zusammenklänge zurückbleiben: hin-
sichtlich der Meisterschaft ihres natürlichen Musikinstrumentes, das ihr
den unermeßlichen Klangfarbenreichtum eines wunderbar vollkommenen
Ansatzrohres zur Verfügung stellt, steht sie unerreicht da. Diese Voll-
kommenheit ist bei Erforschung des Wesens der Sprachmusik bisher
fast unbeachtet geblieben. Das lebendige Klangfarbenspiel der mensch-
lichen Stimme, das täglich mit tausend Zungen an unser Ohr dringt
und mit naiver Unbefangenheit aufgefangen und in seinen zahllosen
feinsten Nuancen verstanden wird, verhallte unbeachtet an den scharfen,
bewaffneten Ohren der wissenschaftlichen Forschung. Es scheint, als
wäre man geradezu mit Klangfarbenblindheit geschlagen gewesen.
Und dieser eigenartige Daltonismus, verbunden mit der Begriffsverwir-
rung, die der allgemeine Sprachgebrauch des Wortes »Melodie« zur
Bezeichnung der musikalischen Reize des Sprachklanges angerichtet
hatte, stellte sich der wissenschaftlichen Erforschung dieser Reize ent-
gegen. Abgestumpft durch langjährige Gewöhnung, überhörte man,
was man täglich und stündlich immer wieder zu hören bekam, und
schenkte dem ans Wunderbare grenzenden Phänomen, dem lebendigen
Klangfarbenkaleidoskop der menschlichen Stimme, keine weitere Be-
achtung. In diesem Phänomen liegt aber gerade der Schlüssel zur
Lösung des Problems der Versmelodie, im Sinne der tiefen Aristote-
lischen Wahrheit, wonach der Urgrund der Dinge gleichzeitig auch
ihr Zweck sei.
Daß der Klangfarbenfolge in der Sprachmusik dieselbe ausschlag-
gebende charakteristische Rolle zufällt, wie sie die Tonhöhenfolge in
der Tonmusik spielt, wird so recht augenfällig bei Betrachtung des Ver-
hältnisses der produzierenden zur reproduzierenden Kunst in den
beiden Tonsystemen. Wir haben gesehen, daß der der individuellen
Art und persönlichen Auffassung des Vortragenden eingeräumte freie
Spielraum in beiden Tonsystemen nur in einer einzigen Beziehung
vollständig aufgehoben erscheint, und zwar in derjenigen, in welcher
der reproduzierende Künstler strengstens an die vom Schöpfer des
Kunstwerkes selbst auf das genaueste festgestellten, diesem immanent
anhaftenden Werte gebunden ist. Dieses vom reproduzierenden
Künstler unabänderlich wiederzuerzeugende Element aber ist die
Intervallfolge in der Tonmusik und die Klangfarbenbewegung in der
Sprachmusik. Man hat einmal die Melodie die Poesie in der Musik
genannt; in Anbetracht dieses Rollenwechsels könnte man das Klang-
farbenspiel mit gleichem Recht als Musik in der Poesie bezeichnen.