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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 9.1914

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Scholz, Wilhelm von: Das Schaffen des dramatischen Dichters
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https://doi.org/10.11588/diglit.3043#0190

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184 WILHELM VON SCHOLZ.

Wie in jeder großen Kunst hat am Scharfen des Dramas unbewußte
und bewußte Arbeit Anteil. Die unbewußte hat gewissermaßen den
Block mit Erdkräften ins Licht gehoben, ihr entstammen immer wieder
die besten Züge. Der bewußte Teil hat als wichtigste Aufgabe: die
Erzwingung des höchstmöglichen Ergebnisses aus dem Unbewußten.
Bewußtheit ist der innere Zuschauer, in den der Dichter sich ver-
wandelt, sobald er von seiner Arbeit zurücktritt, um sie zu über-
schauen; den er vergißt, wenn er spielend in der Fülle aller Möglich-
keiten wühlt, formt, gestaltet, und der doch gewacht und gesehen hat,
der ihm im nächsten Augenblick des Zurücktretens wieder Resultate
bietet, feinste Korrekturen, Wege, Notwendigkeiten zeigt: er steigert
den Künstler über sich hinaus zu dem, was bleibend ist an seinem
Werk, zu einem widerwillig geleisteten Höchsten, das der innere Zu-
schauer, selbst staunend, von der ihn fremd anblickenden Kraft des
Künstlers erzwingt. — Beide Schaffenslinien laufen oft parallel, oft sich
ablösend durch die ganze Arbeit. Vielleicht kann man sagen, daß
nach dem ersten ganz unbewußten Beginnen eine Zeit starker Bewußt-
heit folgt und daß gerade da, wo der Laie vielleicht am meisten die
künstlerische Besonnenheit und Einsicht am Werke vermutet, in der
zweiten Hälfte der Arbeit, das Unbewußte, der zündende Einfall, das
wie im Traum, ganz nur aus sich und oft zum höchsten Überraschen
geschehende Handeln der Charaktere durchaus überwiegen.

Ich werde in diesen Ausführungen manches ausgesprochen haben,
was nicht nur für das dramatische Schaffen gilt. Ich möchte deshalb
meine subjektiven Eindrücke von dramatischer Arbeit auch noch gegen
die vom lyrischen und epischen Schaffen abgrenzen. Das dramatische
Arbeiten erscheint mir als die stärkste Erlösung des Dichters von sich
selbst, weil es ihn nicht nur von seiner Person, sondern in der inten-
siven Vorstellung einer fremden Lebenslage auch von seiner Situation,
seinen Gebundenheiten, seiner Umwelt befreit: die Ichverwandlung ist
stärker als beim epischen Schaffen. Es ist dies jedenfalls begründet
durch die absolute Gegenwärtigkeit alles in dramatischer Form Ge-
schriebenen. Dieser Effekt deutet aber auch darauf hin, daß das wer-
dende Drama auf lange Zeit hinaus den Schaffenden ganz in seine
Gewalt nimmt. Der lyrische Aufschwung, der außerdem viel kürzer
dauernd ist, wird als innerhalb der Persönlichkeit bleibend empfunden
und läßt dem Dichter sein Selbst, wenn auch rhythmisch verändert.
Das epische Schaffen gibt dem Erzähler immer einen gewissen Ab-
stand von dem ganz abgeschlossenen Stoff, wodurch ihm, wie dem
Lyriker, das Selbst gewahrt bleibt — das sich dafür vielleicht im
Drama, wo es unsichtbar wird und verloren scheint, um so stärker
und ausführlicher ausspricht.
 
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