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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 9.1914

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https://doi.org/10.11588/diglit.3043#0288

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282 BESPRECHUNGEN.

das er gehabt hatte, wie jeder, beladen mit seiner Vergangenheit, dastand, bereit,
sie hinauszutragen aus der alten Stadt. Sechs Männer tauchten vor ihm auf, von
denen keiner dem anderen glich; nur zwei Brüder waren unter ihnen, zwischen
denen vielleicht eine gewisse Ähnlichkeit bestand. Aber jeder einzelne hatte auf
seine Art den Entschluß gefaßt und lebte diese letzte Stunde auf seine Weise,
feierte sie mit seiner Seele und litt sie an seinem Leibe, der am Leben hing. In
seiner Erinnerung stiegen Gebärden auf, Gebärden der Absage, des Abschiedes,
des Verzichts. Gebärden über Gebärden. Er sammelte sie. Er bildete sie alle.
Sie flössen ihm aus der Fülle seines Wissens zu. Es war, als stünden in seinem
Gedächtnis hundert Helden auf und drängten sich zu dem Opfer. Und er nahm
alle hundert an und machte aus ihnen sechs. Er bildete sie nackt, jeden für sich,
in der ganzen Gesprächigkeit ihrer fröstelnden Leiber. Überlebensgroß: in der
natürlichen Größe ihres Entschlusses«. Und dann bespricht er die einzelnen Ge-
stalten; wie wundervoll anschaulich ist es, wenn er von dem alten Mann sagt, er
habe einen »Ausdruck von Müdigkeit, der über sein Gesicht fließt bis in den Bart«,
oder von dem Schlüsselträger: »seine Hände beißen in den Schlüssel«. Am aus-
führlichsten gedenkt er der vagen Gebärde jenes Mannes, der »durch das Leben
geht«. »Diese Gestalt, allein in einen alten, dunklen Garten gestellt, könnte ein
Denkmal sein für alle Jungverstorbenen. — Und so hat Rodin jedem dieser Männer
ein Leben gegeben in dieses Lebens letzter Gebärde.« Rilke kritisiert nicht Rodin,
und ich will keineswegs die Schrift Rilkes kritisieren und etwa ihre Glaubwürdig-
keit prüfen an den prächtigen Gesprächen Rodins, die Paul Gsell 1912 veröffent-
licht hat. Es ist nicht Kunstwissenschaft, die Rilke bietet, und die Wissenschaft
wird sich nicht überall auf ihn stützen können, aber dazu sind auch nicht so schöne
Bücher da, wie dieses, das so voll von Verehrung und Bewunderung ist, die ein
Künstler dem anderen zollt; und der Lorbeerkranz, den er dem anderen selbstlos
flicht, ist nicht der schlechteste, den er sich selbst geflochten.

Rostock. Emil Utitz.

A. Wolkoff-Mouromtzoff, L'ä peu pres dans la critique et VImitation dans Vart.
Bergamo 1913. 4°. 508 S.

Ein Werk, das Beachtung verdient, denn in ihm versucht ein namhafter Maler
die Grenzen seiner Kunst zu ziehen. Der Autor ist freilich (auch als Künstler) in
Deutschland ganz unbekannt; er ist Russe von Geburt, und seine Aquarelle, die er
mit dem Pseudonym Roussoff zeichnet, befinden sich beinahe ausschließlich in
den Händen von englischen Privatleuten: sie stellen venezianische und ägyptische
Landschaften dar. Nur so viel sei erwähnt, daß sie hoch im Preise stehen, also
daß hier nicht von einem Scheitern auf dem Gebiete der praktischen Kunst (was
ja manchmal zu Versuchen auf Gebieten der Kritik führt) die Rede sein kann.

Weiter ist der Umstand von Bedeutung, daß der Verfasser zugleich Natur-
wissenschaftler ist. Er war eine Zeitlang Professor der Pflanzenphysiologie in
Odessa. Darin liegt — abgesehen von der vollkommenen Sachkenntnis — die Stärke
sowie freilich auch die Schwäche seines kritischen Verfahrens. Die in unserer Zeit
seltene Vielseitigkeit Wolkoffs erinnert manchmal an Lionardo da Vinci und ist ein
Vorzug, verglichen mit der Tatsache, daß die modernen (und viele ältere) Kritiker
meist wenig mit dem Handwerk bekannt und beinahe immer von den Kulturwissen-
schaften herkommen.

Den Haupt- und Mittelpunkt des glänzend ausgestatteten und mit sehr zahl-
reichen photographischen Reproduktionen verzierten Buches bildet die Behauptung,
 
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