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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 9.1914

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BESPRECHUNGEN. 285

findliche Weise als unsozial zu kennzeichnen und diese Outsider so auf den nor-
malen Weg zurückzuführen.

Gestehen wir dies dem Verfasser zu, so fragt es sich, wie er nun seine zweite
Aufgabe erfüllt, alle Arten der Komik auf diese »Zerstreutheit« direkt oder, wie
angedeutet, indirekt zurückzuführen. Er versucht dies zunächst mit der äußerlichen,
körperlichen Komik gewisser Verunstaltungen und gewisser Gesichtsausdrücke: jede
körperliche Abnormität, die zu einer Ungelenkigkeit und zu einem Verhalten führt,
das mit dem der übrigen Menschen leicht in einen Konflikt geraten kann, wie über-
mäßige Länge, vollends übermäßige Länge einzelner Extremitäten, Buckligkeit,
Schwerhörigkeit, Stottern fällt der Komik und dem Lachen des Kindes und Unge-
bildeten als unsozial anheim wie das Benehmen des Zerstreuten, weil dieselben als
naive und herzlose bloße Zuschauer leicht vergessen, daß der Betreffende »nichts
dafür kann«, wie die Redensart in der Kindersprache bei uns ganz charakteristisch
lautet. Das Lachen wird hier auf äußerlich ganz ähnliche Fälle, wo es aber nicht
ändernd und bessernd wirken kann, wie wir sagten »assoziativ« übertragen.

Und dies geschieht in gleicher Weise natürlich bei Gesichtsausdrücken, die
geistige Abnormitäten unsozialer Art verraten, wie »Tapsigkeit«, »Fahrigkeit«, Ver-
geßlichkeit und schließlich alle Modifikation von »Dummheit« und Beschränktheit.
Voraussetzung ist nur, daß unser Mitleid nicht dabei erregt wird.

Es ist ohne weiteres verständlich, daß in der künstlichen Nachahmung — wie
wir im Sinne Bergsons hinzufügen können — auch der Gebildete weit eher dieses
Mitfühlen ausschaltet und schlichter Zuschauer wird, der lacht, als ob es sich nicht
um unabänderliche soziale Fehler handle. Und so erschließt sich uns mit einem
Schlage das weite Gebiet der künstlerischen Darstellung des Lächerlichen in Theater-
komik oder zeichnerischer Karikatur.

Und in ähnlicher Weise wie die Verwandtschaft dieser äußeren Komik legt
Bergson die aller tiefer liegenden Komik mit jenem Prototyp des »Zerstreuten«
dar und erweitert das Gebiet des Komischen mehr und mehr, indem er zeigt, wie
alles, was an ein Komisches erinnert, schließlich ganz unabhängig von seinem
sozialen Unwert seinerseits wie durch Ansteckung diesen selben Charakter annimmt.

Das Wesen des Lustspiels erblickter dementsprechend darin: all die sich so
ergebenden verschiedenen Arten des Komischen an Typen zu geißeln, die genug
Lebenswahrheit besitzen, daß wir das uns umgebende Leben in ihnen wieder-
erkennen, und doch der Naturwahrheit durch ihre Übertreibung und durch die ganze
Art der Situationen fern genug stehen, um nicht unsere innere und daher ernste
Teilnahme zu erregen.

Es ist ohne weiteres ersichtlich, wie das Wesen des Trauerspiels und sonstiger
ernster Kunst für Bergson im Gegensatz hierzu gerade darin bestehen muß: Indi-
vidualitäten oder individuell Erlebtes so darzustellen, daß es uns innerlich packt.

So stellt Bergson das Lustspiel und alle sonstige satyrische und komische Kunst
als ein Mittelding hin zwischen Kunst und Leben.

Denn (S. 101) »das Leben verlangt, daß wir die Dinge in dem Bezug sehen,
den sie zu unseren Bedürfnissen haben. Leben besteht in Handeln. Leben heißt,-
von den Dingen nur den nützlichen Eindruck aufnehmen und durch geeignete
Reaktionen darauf antworten — die anderen Eindrücke müssen sich verdunkeln, oder
sie dürfen uns nur verworren treffen«. »In dem, was Sinne und Bewußtsein uns
von den Dingen und von uns selber sehen lassen, sind die dem Menschen unnützen
Unterschiede ausgelöscht, die dem Menschen nützlichen Ähnlichkeiten betont . . .
Die Dinge sind mit Rücksicht auf den Nutzen, den ich aus ihnen ziehen kann,
klassifiziert worden. Und viel mehr als Farbe und Form der Dinge apperzipiere
 
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