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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 9.1914

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Erpf, Hermann: Der Begriff der musikalischen Form
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https://doi.org/10.11588/diglit.3043#0373

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DER BEGRIFF DER MUSIKALISCHEN FORM. 367

erkennbares eigenes Anordnungsgesetz. Die dynamischen Verhältnisse
dienen wieder dazu, die Wirkung der eigentlich formaufbauenden Bil-
dungen zu unterstützen. Die dem Motiv innewohnende und natür-
licherweise zukommende Dynamik ist diese: —=r; ir=— ; Untertei-
lungsmotive kommen in folgender Weise in Betracht: —=rn ~Ü5==— •
Gelegentlich kann die Dynamik sich auch gegen den Zwang der
anderen Qualitäten auflehnen, indem sie etwa Betonungen auf schlechte
Taktteile bringt. Durch die anderen Instanzen muß dann hinreichend
dafür gesorgt sein, daß der Verlauf trotz dieser Störungen klar erkenn-
bar bleibt. Die Agogik ist in analoger Weise wie die Dynamik zu
verstehen. Die agogischen Dehnungen und Verkürzungen dürfen, ob-
wohl es sich eigentlich um Dauerverhältnisse handelt, nicht mit den
rhythmischen Gebilden verwechselt oder zusammengestellt werden.
Es ist eine Eigentümlichkeit unseres psychischen Auffassens, daß
rhythmische Verhältnisse trotz geringer Abweichungen doch noch
richtig verstanden werden. Diese Abweichungen bilden eben die
agogischen Phänomene. Werden sie zu groß, so verschwindet sofort
die agogische Wirkung und die rhythmische, d. h. Dauerverhältnis-
auffassung tritt für sie ein. Die agogische Möglichkeit wird benutzt
ganz in Analogie zu Dynamik: Dehnungen dienen wie die Betonungen
dazu, die Taktschwerpunkte zu markieren.

Gebilde aus den Bereichen aller anderen Qualitäten werden also
herangezogen, um die Verhältnisse des metrischen Aufbaus klarzulegen
und seine Formwirkung zu unterstützen. Es darf aber nicht über-
sehen werden, daß die metrische Qualität genau so primär und ele-
mentar ist, wie die anderen; sie ist ja für den Aufbau vom Umfang
der achttaktigen Periode das eigentlich Maßgebende und zieht die
anderen Qualitäten in ihren Dienst. Sie ist nur in ihrer Äußerungsart
nicht so selbständig, weshalb es auch einer langen historischen Ent-
wicklung bedurfte, bis ihr Notenschriftzeichen, der Taktstrich, an-
fänglich in ganz anderem Sinne verwendet, sich allmählich zu dem
herausgebildet hat, was er jetzt ist: dem Zeichen für den Taktschwer-
punkt, den Träger der Taktmotive.

4. Die Kontrapunktik. — Die bisherigen Betrachtungen bezogen
sich nur auf homophone, akkordisch begleitete Musik. Ganz neue
Formungserscheinungen treten ein, wenn neben der Oberstimme noch
andere thematische Bildungen sich bemerkbar machen.

Es wird zunächst zu untersuchen sein, wie solche Nebenbildungen
beschaffen sein müssen, um neben der Hauptstimme Anspruch auf
Beachtung zu haben. Die Entscheidung über diese Frage liegt natür-
lich nur wieder beim Ohr. Es gibt ja z. B. Fugen, die streng nach
kontrapunktischen Gesetzen gearbeitet sind und auf dem Papier,
 
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