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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 9.1914

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Erpf, Hermann: Der Begriff der musikalischen Form
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https://doi.org/10.11588/diglit.3043#0374

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368 HERMANN ERPF.

für das Auge, ganz diesen Eindruck machen, die aber doch beim
Hören ganz ähnlich homophoner Musik wirken. Hier findet eben eine
Ausscheidung anderer thematischer Gebilde neben der Oberstimme
nicht statt. Diese Ausscheidung ist in der Tat an bestimmte Be-
dingungen gebunden. Parallele Oktaven-, Terzen- und Sextengänge
zu einer Melodiestimme werden nicht gesondert aufgefaßt, sondern
nur als Melodieverstärkung oder harmonische Ausdeutung derselben
gehört. Das gilt auch dann noch, wenn die zweite Stimme die erste
nicht nur von einem Intervall aus melodisch nachbildet, sondern
melodisch selbständig, in Oegenbewegung oder beliebig in wechseln-
den Intervallen zur Hauptstimme geführt ist. Solange die Stimmen in
gleichen Notenwerten sich bewegen, bleibt der Eindruck homophoner
Musik im wesentlichen bestehen. Erst wenn eine melodische und
rhythmische Differenzierung eintritt, liegen kontrapunktische Bildungen
vor, d. h. also erst dann, wenn beide Stimmen motivisch selbständig
gearbeitet sind. Der Verfolg zweier oder mehrerer solcher Tonreihen
bietet aber Schwierigkeiten und ist nur durch Übung zu erlernen. Bei
drei, höchstens vier Stimmen dürfte die Grenze liegen, die unser Auf-
fassungsvermögen zieht. Mehrstimmige Kompositionen sind immer
in Rücksicht darauf gearbeitet und verzichten auf die ganz freie Füh-
rung von mehr als drei oder vier Stimmen. Die übrigen Stimmen er-
halten Haltetöne, parallele Terzen und Sexten zu den Hauptstimmen usw.
Experimentell, auf dem Papier, ist man ja weiter gegangen, aber die
Wirkung solcher Versuche ist stets eine verwirrende, und das Ohr
hilft sich, indem es eben eine Stimme als die führende heraushört,
daneben höchstens noch zwei bis drei andere zu verfolgen und die
verwirrende Wirkung der übrigen zu beseitigen, zu überhören sucht.
Überhaupt ist es eine Eigenschaft unseres kontrapunktischen Hörens,
immer eine bestimmte Stimme als eigentliche Hauptstimme, als Trägerin
des Verlaufs des Tonstückes aufzufassen und ihr die übrigen unter-
zuordnen. Die Funktion der Hauptstimme ist nicht an eine bestimmte,
etwa die oberste Stimme gebunden, sondern kann ihnen beliebig zu-
kommen, ja sogar von einer zur anderen überspringen. Dies geschieht
besonders da, wo dem kontrapunktischen Gewebe ein prägnantes,
charakteristisches Thema zugrunde liegt, das bald da, bald dort auf-
taucht. Diejenige Stimme, die einen solchen thematischen Einsatz
bringt, wird dann immer sofort als Hauptstimme gefaßt. Widerspricht
die metrische Funktion des Anfangstaktes des einsetzenden Themas
derjenigen des Taktes, auf den der Einsatz erfolgt, so findet, da die
das Thema bringende Stimme sofort für den Aufbau maßgebend ist,
eine metrische Umdeutung statt. Die thematischen Einsätze erfolgen
mit Vorliebe, um stark die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, auf
 
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