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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 9.1914

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Werner, Alfred: Zur Begründung einer animistischen Ästhetik, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.3043#0412

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406 ALFRED WERNER.

Lipps geht sicherlich zu weit, wenn er behauptet, »aller Kunstgenuß
überhaupt ist danach Genuß eines ethisch Wertvollen«:). Die weiteren
Beispiele, die wir bringen, beweisen, daß wahre Kunstwerke, die sicherlich
ästhetisch genossen werden können, weder »schön« noch nach ihrem
Bedeutungsgehalt »ethisch wertvoll« sind. Die »trunkene Alte« des
jüngeren Myron in der Münchener Glyptothek ist ein großes Kunst-
werk, das der Kunstverständige ästhetisch genießen kann. Dabei ist
mir die Schönheit oder der sittliche Wert der weinseligen Alten nie-
mals aufgegangen.

Die »Hille Bobbe« des Franz Hals im Berliner Kaiser-Friedrich-
Museum ist auch kein schlechtes Kunstwerk. Dargestellt ist ein
garstiges altes Weib.

Jene zahlreichen ausgezeichneten Gemälde des Adrian Brouwer, auf
die München stolz sein kann, zeigen zankende, trunkene, raufende
Bauern. Denken wir ferner an Gestalten der Dichtung wie Richard III.,
Franz Moor, Geßler, Mephisto, Leonhard in Maria Magdalena, so haben
wir genug Beispiele dafür, daß die Kunst es nicht nur mit Schönem
oder ethisch Wertvollem zu tun hat. Wie klein und hilflos stände
wohl der moderne Kritiker da, der mit so schwächlichen Maßstäben
die großen selbstherrlichen Werke eines Hodler oder eines Rodin be-
urteilen sollte!

Ich wäre dafür, statt »ästhetisch« »ausdrucksvoll« zu setzen, womit
ich meine Zergliederung ästhetischen Genusses rechtfertigen will, Worte
aber wie »künstlerisch schön« können zu Mißverständnissen Anlaß
geben. So schreibt Werner Weisbach2) von Velazquez: »In seinen
Bildnissen von Zwergen und Narren hat er der Welt gezeigt, wie auch
das Naturhäßliche durch die Art der Wiedergabe künstlerisch schön
sein kann.«

Jedes wahre Kunstwerk bringt, wie wir zeigen werden, Seelisches,
nämlich Gefühle oder Stimmungen, zum Ausdruck. Es ist ausdrucks-
voll. Jeder Genuß am Ausdrucksvollen, den die Seele als willen-
loses Bewußtsein »hat« oder mit anderen Worten »erlebt«, ist künst-
lerischer oder ästhetischer Genuß.

3. Die Methode.

Übernahmen wir oben den Volkeltschen Satz: »Ohne Zweifel ist
es Hauptaufgabe der Ästhetik, nur das vollentwickelte ästhetische Ver-
halten kennen zu lernen«, so ist hiermit bereits eine Frage nach dem

') Lipps, Komik und Humor 1898, S. 227.

2) W. Weisbach, Impressionismus. Berlin 1910, Bd. I, S. 103.
 
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