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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 9.1914

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https://doi.org/10.11588/diglit.3043#0460

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454 BESPRECHUNGEN.

Gelegenheitsschrift auch gar nicht nötig: sie ist wirklich eher eine »Rede an des
Kaisers Geburtstag« denn eine Kaisergeburtstagsrede.

Sie gibt ein gutes Bild vom Leben des Dichters und von den drei Ereignissen,
die es bestimmen: der Liebe zu seiner Frau, der Freundschaft mit Rimbaud und
der Bekehrung zu Gott. Und von seiner Kunst: wie er vom Parnaß, von der Im-
passibilite, von der Ziselierkunst, von Positivismus und Realismus durch schmerzens-
reiche Erfahrungen zu jenen von leisem Leid bewegten Liedern kommt, wie La
lune blanche, die ganz dicht bei »Über allen Wipfeln« und »Im Nebel ruhet noch«
stehen. (Ein zwingender Beweis für sein Künstlertum, daß er dieser Wandlung
niemals gewahr wurde.) Lieder, in denen Untertöne zittern, daß man spürt, wie-
viel hier gebändigt und überwunden werden mußte, ehe jene stille Heiterkeit zu-
stande kam, jenes Lächeln unter Tränen, das den ß-/7n'o/7-Optimisten ewiglich ver-
sagt bleibt (es ist eben so, daß das Leben am tiefsten begreifen, die am tiefsten
am Leben verzweifeln). Und andere, in denen es ihm nicht gelungen ist, seine
trübe Zerrissenheit zur Harmonie, zur Heiterkeit der Kunst zu läutern, und die uns
darum — nur noch mehr ergreifen. Freilich, hier fehlt alle Klarheit und Gegen-
ständlichkeit, hier fließt alles zusammen und durcheinander, alle Anschauung ver-
flüchtigt sich, und nur die tiefste aller Künste kann hier noch reden: eine uferlose,
unendliche Musik. Ob die Musik und die Malerei der Schleier und Schatten, die
schwermütige Malerei eines Corot mit seinem Lieblingswort: »Tont flotte«., die
schwanke Musik eines Chopin oder Wagner so viel Einfluß hatte, wie Wechßler
will? Mir scheint, Verlaine habe diese Stimmungen zu sehr im eigenen Innern
gefühlt, um dieser Anregungen zu bedürfen, hätte sie nicht aufgenommen, hätte er
jene Stimmungen nicht im eigenen Innern gefühlt. Was Wunder, daß sein Erleben
in dem hergebrachten geschwätzig-bramarbasierenden Alexandriner mit dem Pauken-
schlag am Schluß nicht unterzubringen war, daß Verlaine die alte Form zerbrechen
mußte. Man erinnere sich an das Lied von den Fiedeln des Herbstes, dreimal
sechs Verse, deren jeder nur vier Silben zählt, die dadurch so schwermütig gedehnt
klingen. Und die einzelnen Verse sind nicht schroff gegeneinander abgegrenzt,
sondern fließen ineinander über:

Les sanglots longs
Des violons

De Vautomne
Blessent nwn caur
D'une languetir

Monotone.

Ein einziger Satz, durch kein Komma zerschnitten. Wo gab es das vorher? (Da-
neben steht bei Wechßler die ahnungslose Übersetzung von Otto Hauser: Chopin
auf dem Leierkasten. »Wie ist so bang, O Herbst, der Klang Deiner Geigen!
Der Klang voll Schmerz Versehrt mein Herz Mehr wie Schweigen.« Er hat es
fertig bekommen, aus dem einen Satz zweie zu machen, den ersten davon durch
die trivial personifizierende Anrede an den Herrbbsstt zu zerschneiden, die gräulich-
schneidenden Reime Herrzz und Schmerrzz hinzuzudichten und die schlicht-sach-
liche Aussage in einen rhetorisch-effektvollen Ausruf zu verwandeln! Wenn
das Original unübersetzbar ist — allein langueur kann einen zur Verzweiflung
bringen — so lasse man es eben bleiben.) Und der Schluß:

Et je rrCen vais
Au vent mauvals
Qui m1 empörte
 
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