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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 9.1914

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Hernried, Erwin: Weltanschauung und Kunstform von Shakespeares Drama
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https://doi.org/10.11588/diglit.3043#0519

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508 ERWIN HERNRIED.

irdischen Todes durch die Überwindung der irdischen Lüste. Eine
religiöse Auslegung, der Hinblick auf ein jenseitiges Leben, ist mög-
lich, aber er zwingt sich nicht auf.

Ja er verbietet sich sogar, wenn man die verwandte Philosophie
aus Shakespeares Dramen kennt. Mit einem Ereignis, das an sich
transzendental ist, beginnt der Hamlet. Ein Stück christlicher Mytho-
logie wird verwendet. Ein Geist erscheint, bestätigt das Leben im
Jenseits und erzählt von den Martern der Hölle. Alle philosophischen
Zweifel, sollte man meinen, wären von vornherein ausgeschaltet. Es
gäbe ein Jenseits und in diesem ein Gericht über Gut und Böse, eine
Buße für die Erbsünde, und so weiter, getreu den Lehren des reprä-
sentativen Christentums. Weit gefehlt: die Geistererscheinung hat für
Hamlet nicht die geringste religiöse Bedeutung. Und wie sie vernach-
lässigt wird, geschieht so unbewußt, ja auch in künstlerischem Sinne
mit so ungewolltem Mangel an Folgerichtigkeit, daß für Hamlet hier
geradezu Shakespeare eintritt. Ist für Shakespeare das Geisterwesen
eben auch nur eine künstlerische Wirklichkeit, so gibt sich innerhalb
des Stückes der Glaube daran nicht anders als der nicht weniger
wirklich dargestellte Aberglaube an Hexen oder sonstige Wesen und
Kräfte, die wohl ethisch als widernatürliche, aber nicht religiös als
übernatürliche gefühlt werden. Auch wenn er sagt: »Es gibt mehr
Ding im Himmel und auf Erden, Als eure Schulweisheit sich träumt,
Horatio«, ist dies nicht anders gemeint. Die Kunde von einem anderen
Leben hat ihm als solche nichts bedeutet.

Wie könnte er sonst sagen: »Sterben — schlafen — nichts weiter.«
Und: »Was in dem Tod-Schlaf kommen mag an Träumen.« Und:
»Das unentdeckte Land von deß Bezirk kein Wandrer wiederkehrt.«
Hier ist nun, ganz abgesehen von dem offenkundigen Widerspruch
zu dem Geistermotiv, Shakespeares Haltung dem Tode gegenüber
überhaupt zu sehen. Die Frage ohne Antwort, die unabänderliche,
unentrinnbare Tatsache, der Mahnruf des Schicksals, das uns in seine
Kette schließt, nachdem es uns den kurzen Wahn von Willen und
Freiheit gewährt. Daß hier ein Ende ist, war seinem individuellen
Fühlen klar. Sein Selbstgefühl war zu groß, als daß ein pantheistisches
Sein ihm Selbsterhaltung gewährleistet hätte. Sein Wirklichkeitsgefühl
war zu groß, als daß er einer Transzendenz zugeflohen wäre. Über das
Weiterleben im Werk und in der Gattung hinaus erschien ihm nirgends
ein Trost für den Zerfall des eigenen Ich.

Er läßt im ganzen die Frage nach einem Weiterleben offen. Als
der Kerkermeister Posthumus vor Cymbeline und vermeintlich zum
Tode ruft, entspinnt sich folgendes Gespräch: »denn seht Ihr, Herr,
Ihr wißt nicht, welchen Weg Ihr nehmt.« »Doch, Bursche, das weiß
 
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