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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 11.1916

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Werner, Alfred: Grundwissenschaft und Ästhetik
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https://doi.org/10.11588/diglit.3817#0448

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BEMERKUNGEN. 443

und vor ihrer Selbstauflösung im Solipsismus zu erretten. Das ästhetische Grund-
problem ist nicht, wie Meumann will, »das ästhetische Verhalten des Menschen zur
Welt«, sondern das Ästhetische überhaupt als ein besonderes Gegebenes, das zu-
nächst, ganz abgesehen von der Individualität des Einzelbewußtseins, ganz abgesehen
von Seelenimmanenz oder -transzendenz eindeutig zu bestimmen ist').

Wo wir uns im Reich des Ästhetischen umblicken, in den von Dessoir ab-
gegrenzten Gebieten ästhetischer Natur, Kultur und Kunst, haben wir stets Werke
vor uns, Einheiten aus Leib und Seele. Die Leiber oder die Dinge, die wir ästhetisch
nennen, gehen stets mit Seelen eine Einheit ein, mit einem Wort: sie sind aus-
drucksvoll, sie drücken seelischen Gehalt aus.

Ob ich in Wirklichkeit eine Tänzerin sehe, ob ich eine der vielen Tänzerinnen
bei Degas oder das Drama bei Max Klinger betrachte, ob ich mich nachts bei stürmi-
schem Wetter in einem ostpreußischen Dorf aufhalte oder ein ähnliches Stimmungs-
bild Ludwig Dettmanns genieße, stets ist mir zugleich mit der äußeren Form ein
innerer Gehalt geboten. Entstammt diese äußere Form dem Reiche der Kunst, so
nenne ich sieden Kunstleib; den in Einheit mit dem Kunstleibe gegebenen Seelen-
gehalt nenne ich — gleichfalls analog der grundwissenschaftlichen Betrachtung —
die Kunstseele; die zusammengefaßte Einheit nenne ich das Kunstwerk.

Die Frage der Wirklichkeit oder Nichtwirklichkeit des mir gegebenen Kunst-
werks spielt zunächst gar keine Rolle, wie ja auch das Problem des menschlichen
Leibes und der menschlichen Seele erst von der Physiologie und der Psychologie,
nicht aber von der Philosophie als Grundwissenschaft aufgeworfen wird.

Der besondere Gegenstand der allgemeinen Kunstwissenschaft ist das aus
Kunstleib und Kunstseele bestehende Kunstwerk; die einzelnen Kunstwerke nur
insoweit, als sich die Grundbegriffe in ihnen verkörpern. Einen Einteilungsgrund
der verschiedenen Künste bieten nicht die Kunstseelen, sondern allein die ver-
schiedenartigen Kunstleiber. Von einer Verwandtschaft der Künste untereinander
kann nur darum die Rede sein, weil die Kunstseelen, selbst in den verlierbaren Be-
stimmtheiten, miteinander übereinstimmen können. Die Verwandtschaft zwischen
einer barocken Jesuitenkirche und einem Gemälde von Rubens ist in der hohen
Intensität des Gefühls, in der jubelnden Ekstase der Seele, keinesfalls in einer
Verwandtschaft der Leiber zu suchen.

Wenn man daran denkt, daß jede Kunst, die im wesentlichen vom Material
bestimmt wird — es ist hier ganz gleichgültig, ob es sich um Farben, Töne, um
Stein oder um Worte handelt —, ihre Besonderheiten des Kunstleibes aufweisen
muß, wenn man daran denkt, daß jedes gute Kunstwerk seine ihm allein eigentüm-
lichen Züge in besonders hoher Zahl aufweist, da es ja von einer starken Indivi-
dualität geschaffen wurde, so bleibt ein sehr geringer Rest übrig, der den beson-
deren Gegenstand der allgemeinen Kunstwissenschaft ausmacht.

Jedes Kunstwerk erfordert gerade wegen seiner Besonderheit eine besondere
Untersuchung; die Grundbegriffe des Werkes als einer aus Kunstleib und Kunst-
seele bestehenden Einheit werden jedoch darum keineswegs angetastet. Auf
diese Grundbegriffe und ihre Beziehungen allein, nicht aber auf die mannigfachen
Besonderheiten des Kunstwerks findet darum der Dessoirsche Satz seine Anwen-

') Den Objektivismus in der Ästhetik — allerdings ohne die von mir gewünschte
Loslösung von der Psychologie — hat in den letzten Jahren vor allem Max Dessoir
betont. In dieser Zeitschrift V. Bd , 1. Heft Objektivismus in der Ästhetik; VIII. Bd.,
3. Heft Über das Beschreiben von Bildern; IX. Bd., 1. Heft Systematik und Ge-
schichte der Künste.
 
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