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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 32.1938

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Müller-Freienfels, Richard: Das Überwirkliche in der Kunst, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.14217#0016
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tragischen, bald heiteren Gestalten vor das Volk. Alles das aber ist nicht
bloß „Abbild der Wirklichkeit"; es ist eine geistige, wenn auch mannigfach
„verkörperte" Ü b e r Wirklichkeit, die ihr eignes Dasein hat und ihre eigne
Entwicklung. Kein Einzelmensch überschaut sie ganz, aber jeder Einzel-
mensch empfängt mehr oder weniger ein Gepräge von der Kunst, auch wo
er sich dessen gar nicht bewußt ist. Kein Mensch lebt nur in der naturhaften
Wirklichkeit, sondern in einer kulturellen Überwirklichkeit, zu der als
wichtiges Sondergebiet stets die Kunst gehört hat.

Indem ich den Begriff der „Üb er Wirklichkeit" einführe, der im
folgenden genauer zu bestimmen ist, handelt es sich nicht bloß um ein
neues Wort, sondern um einen Begriff, der geeignet scheint, bisher
unzulänglich beschriebene Tatbestände in klareres Licht zu rücken. Als
Überwirkliches bezeichne ich n i c h t einen radikalen Gegensatz zur Wirk-
lichkeit, nicht also eine U n - Wirklichkeit, sondern eine zwar auf der natür-
lichen Wirklichkeit sich aufbauende, diese aber zugleich umgestal-
tende, ergänzende, vergeistigende Wirklichkeit über-
geordneten Ranges. Als „Wirklichkeit" gilt mir die „Natur", d. h.
die Umwelt, in der das Tier und der vorkulturelle Mensch leben und wir-
ken. Der Kulturmensch dagegen hat diese naturhafte Wirklichkeit in all
ihren Beständen, sich selbst inbegriffen, subjektiv und objektiv umgestaltet,
er hat sich die gesamte Erdoberfläche unterworfen, mit seinem Geiste
durchdrungen und damit eine höhere Umwelt geschaffen, die das Gepräge
seines Geistes trägt und seinem Wesen gemäß ist. Dies besondere Wesen
des Menschen, das ihn selbst und seine Welt grundsätzlich über alles Tier-
hafte hinaushebt, ist der Geist. Kultur ist objektivierter Geist, und Geist
umfaßt in subjektiver Hinsicht alle Fähigkeiten, die auf Schaf-
fung einer Kultur, einer Überwirklichkeit gerichtet
sind. Metaphysisch gesehen, stellt der menschliche Geist mit seinen Objek-
tivationen eine Seinsphäre dar, die mit einer eignen Gesetzlichkeit sich so-
wohl der anorganischen wie der vegetativ-animalischen Wirklichkeit über-
ordnet und ihnen gegenüber eine höhere Wirklichkeit, eine Überwirk-
lichkeit ist. Mit der Kultur erscheint etwas grundsätzlich Neues in der
Welt, nicht abzuleiten aus den glühenden oder festen Gestirnen, die den
weitaus größten Teil dessen bilden, was wir Welt nennen; auch nicht ab-
zuleiten aus dem pflanzlichen und tierischen Leben, das wenigstens unser
Gestirn seit Millionen Jahren überspinnt. Wohl wissen wir vom Geiste
nur auf unserer Erde und seit nicht vielen Jahrtausenden; aber selbst
wenn der Geist nur auf der Erde, auf keinem andern Gestirn vorkäme,
er wäre doch eine kosmische, eine metaphysische Tatsache. Denn inner-
halb der physikalisch-chemischen Weltschicht, erwachsend aus der bio-
logischen Welt der Pflanzen und Tiere, aber sich zugleich über sie er-
hebend und jene andern Weltschichten geistig sich unterwerfend, erscheint
 
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