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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 32.1938

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Wiedemann-Lambinus, Margarete: Die romantische Kunstanschauung Wackenroders und Tiecks
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https://doi.org/10.11588/diglit.14217#0041
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DIE ROMANT. KUNSTANSCHAUUNG WACKENRODERS U. TIECKS 27

Goethe nimmt die Antike zum Ausgangs- und Zielpunkt; er führt in die
Säulenhalle der Propyläen. Wackenroder versenkt sich in das deutsche
Mittelalter und flüchtet in die Zelle eines Klosterbruders. Während Goethe
seine Kunstansichten in theoretischen Abhandlungen niederlegt, gibt
Wackenroder Herzensergießungen, in denen sich nirgends methodische
Kritik oder sachverständige Analyse findet, sondern es handelt sich um
einen Strom inniger und religiöser Begeisterung für die Kunst. Den
Hauptinhalt seines Büchleins bilden dem Vasari nacherzählte Künstler-
geschichten, Anekdoten und poetische Phantasien. Modern in seinem
Empfinden ist Wackenroder durch seine entschiedene Vorliebe für Malerei
und Musik. In dieser Beziehung ist er mit Heinse verwandt. Allerdings
steht Heinses brünstige Sinnlichkeit im Kunstgenuß in starkem Gegensatz
zu der keuschen, demütigen Andacht des Klosterbruders. Wackenroder
sieht in der Kunst etwas Weihevolles, nur mit dem Gefühl Erfaßbares,
und er erhebt daher schärfsten Protest gegen die zeitgenössischen
Ästhetiker, die Verstandesmaßstäbe an die Kunstwerke anlegen. „Wer
ein System glaubt", ruft Wackenroder aus, „hat die allgemeine Liebe aus
seinem Herzen verdrängt. Erträglicher noch ist Intoleranz des Gefühls,
als Intoleranz des Verstandes, — Aberglaube besser als Systemglaube".
(Herz. S. 50). Mit diesen Sätzen wendet sich Wackenroder gegen jede
systematisierende und begriffliche Kunstlehre. Seine Auffassung von der
Kunst liegt auf einer ganz anderen Ebene als diejenige der zeitgenössi-
schen Kunsttheoretiker. Wackenroder will der Fülle des Lebens und
Erlebens nicht durch zergliedernde Kritik schaden. Mit Herder teilt er die
Fähigkeit, Schönheit nachzufühlen und vor allem nationale Individualität
in ihrer künstlerischen Ausprägung und Eigenart zu verstehen. In den
„Herzensergießungen" schreibt er: „Uns Söhnen dieses Jahrhunderts ist
der Vorzug zuteil geworden, daß wir auf dem Gipfel eines hohen Berges
stehen, und daß viele Länder und viele Zeiten unseren Augen offenbar um
uns herum und zu unseren Füßen ausgebreitet liegen. So lasset uns denn
dieses Glück benutzen und mit heiteren Blicken über alle Zeiten und
Völker umherschweifen". (Herz. S. 50). Wie Herder nimmt Wackenroder
großen Kunstwerken gegenüber nicht den Standpunkt des Vergleichens
und Kritisierens, sondern den des Nachschaffens in der Empfindung ein.
Immer wieder mahnt er: "O, so ahndet Euch doch in die fremden Seelen
hinein. Versucht durch ihr Gemüt hindurch ihre Werke zu empfinden".
(Herz. S. 48). Als Gefühlsmensch steht Wackenroder unter den Früh-
romantikern dem Sturm und Drang am nächsten, und er versteht es, das
Schlagwort des Sturms und Drangs: „Gefühl ist alles, Name ist Schall
und Rauch" feinfühliger und allseitiger zu nutzen als irgendein anderer
vor ihm. Vom Sturm und Drang übernimmt er das Interesse für altdeut-
sches Wesen, altdeutsche Dichtung und altdeutsche Kunst.
 
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