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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 32.1938

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Künstler, Gustav: Der dramatische Aufbau von Shakespeares "Hamlet"
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https://doi.org/10.11588/diglit.14217#0061
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DER DRAMATISCHE AUFBAU VON SHAKESPEARES „HAMLET" 47

Herauswachsen aufzuzeigen, und zeichnet notwendigerweise in Kürze das
dramatische Geschehen nach. Der zweite Hauptteil hat das Ganze zum
Gegenstande und stellt die Art der in der Komposition der Figuren wie
des Dramas selbst waltenden Gesetzlichkeit fest.

* *
*

Der 1. Akt erhält den Hauptakzent durch den Racheauftrag, den der
Geist Hamlet erteilt. Die Auftragerteilung ist der Auslöser der Handlung
und muß, damit sie beginnen kann, als Szene stark hervorgearbeitet,
gleich zu Beginn erfolgen. Die Schwierigkeit, diese Forderung zu erfüllen,
leuchtet unmittelbar ein: wie sollte eine das Schicksal der Hauptpersonen
zutiefst anfassende Szene wirksam sein, wenn die Hauptpersonen nicht
bekannt sind, nichts von ihnen bekannt ist? Ein Aufführen der Personen
ohne den auslösenden Motor würde hingegen in bloßem Schildern, un-
dramatisch verlaufen. Shakespeare weiß diese Klippe nicht nur zu um-
schiffen, sondern macht sie zu einem Markstein höchster dramatischer
Genialität.

Wesentlich ist, daß sich das Drama nicht allein bedacht zeigt auf die
beiden Faktoren: Spielfigur — Handlung, sondern auch auf den dritten
Faktor: Zuschauer. Durch seine Einbeziehung ist die Zweidimensionalität,
Bühnenfigur—Handlung, zum Räume erschlossen; der Zuschauer wird
vom außenstehenden Beobachter zum Mitspieler, muß das Drama mit-
erleben, miterleiden: er tritt ein in die Wirklichkeit des Werkes. Im Drama
der Griechen war der Zuschauer als Chor körperlich einbezogen; die
Spielfiguren waren der gleichen unentrinnbaren Gesetzlichkeit unterwor-
fen wie er selbst. Die Handlung war vom „Schicksal" bestimmt und wurde
kritiklos hingenommen, im (religiösen) Glauben an seine Unabwendbar-
keit. Bei Shakespeare ist der Zuschauer geistig einbezogen. Die Bühne ist
eine Welt des Scheines, die Wirklichkeit des Werkes Scheinwirklichkeit.
Spielfigur und Zuschauer sind nicht der gleichen Gesetzlichkeit unter-
worfen. Um dem Ablaufe der Handlung teilnahmsvoll zu folgen, muß der
Zuschauer erst an die Notwendigkeit des Geschehens glauben, er muß
Handlungsweise und Schicksal der Spielfiguren verstehen können.

Die spukhafte Gespensterscheinung wird in der 1. Szene schrittweise
vorbereitet. Die Bühnenbemerkung lautet: „Helsingör. Eine Terrasse vor
dem Schlosse"; weiterhin nur knappste Hinweise auf das Auf- und Ab-
treten der Spielfiguren. Bernardo tritt zum wachehaltenden Franzisco.
Nach Abverlangen der Parole erkennt ihn dieser und anerkennt seine
Pünktlichkeit. Der unbestimmte Hinweis auf die Zeit wird sofort auf-
gegriffen: „Es schlägt schon zwölf, mach' dich zu Bett, Franzisco." —
Mitternacht — „.. .'s ist bitter kalt und mir ist schlimm zu Mut." Diese
(zunächst) bedeutungslose Bemerkung vertieft die Mitternachtstimmung
 
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