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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 32.1938

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Wiese, Leopold von: Ideenkunst und Sinnenkunst: (zu Pitirim Sorokins Lehre von der Fluktuation der Kunstformen)
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https://doi.org/10.11588/diglit.14217#0112
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Zeitung. In der Kerenskizeit wurde er aktiver Politiker. Als Lenin ans Ru-
der kam, gehörte Sorokin zu den Gegenrevolutionären, die den Kommunis-
mus bekämpften. Er mußte fliehen, wurde in Abwesenheit zum Tode ver-
urteilt und ist seitdem im politischen Exil. Völlig mittellos kam er nach
Amerika. Professor E. A. Ross erzählt in seiner Autobiographie, wie er sich
im März 1923 an seinen damals recht einflußreichen Kollegen Small nach
Chicago wandte, um Sorokin eine Lehrtätigkeit zu verschaffen, aber die
Antwort erhielt: „Ich kann nicht glauben, daß ein russischer Professor der
Soziologie hier eine Zukunft finden könnte; ich würde es für grausam hal-
ten, ihn in der Annahme zu ermutigen, er könnte an einer amerikanischen
Universität erwünscht sein." Jedoch Ross' eigene Universität in Wisconsin
stand dem Flüchtling bei, und jener fügt in seiner Lebensbeschreibung1)
hinzu: „He (Sorokin) now occupies at Harvard as attractive a chair of
sociology as there is in the world".

Der Weltkrieg und seine Folgen erschütterten in dem Russen seinen
bisherigen Glauben an Fortschritt, Sozialismus, Demokratie und wissen-
schaftlichen Positivismus. Besonders die russische Revolution, die er voll
Erschrecken so nahe erlebt hatte, lehrte ihn, die Fragen nach den Zu-
sammenhängen des sozialen und kulturellen Lebens ganz von neuem, un-
abhängig vom Optimismus des 19. Jahrhunderts zu stellen. Allmählich
verdichtete sich ihm ein neues Bild der Menschheitsgeschichte. Es entstand
der Plan, eine enzyklopädische Geschichtsphilosophie zu schaffen, in der
die Kulturentwicklung der griechisch-römischen Antike und der europäisch-
amerikanischen Gesellschaft, die er die „westliche" nennt, im Ausmaße der
letzten 2500 Jahre verarbeitet und darüber hinaus die Geschichte Ägyp-
tens, Babylons, der Hindu, Chinesen und Araber berücksichtigt ist. Wie
bei all diesen Versuchen handelte es sich darum, im schier unendlichen
Strome des Geschehens einfache, nicht weiter zerlegbare Grundprinzipien
zu finden, die in möglichst geringer Zahl stets erkennbar sein müßten.

Als letzte systembildende Kraft glaubte er nun eine Dichotomie zu
sehen, einen sich zeitlich abwechselnden Gegensatz zwischen den Prinzi-
pien der „Ideation", der Formung nach Ideen, und dem, was er mit einem
Ausdruck bezeichnet, der durch e i n unmißverständliches Wort kaum zu
übersetzen ist: the Sensate. (Man könnte es vielleicht im Deutschen das
Sinnengemäße nennen, darf dies aber nicht mit dem ganz anderen Begriff:
das Sinngemäße verwechseln.) Gegenübergestellt wird eine vom Spiri-
tuellen erfüllte und eine den Sinnen dienende und von der Befriedigung
der Sinne geleitete Kultur. Einen seltenen Ausgleich finden diese sich
widersprechenden Kultursysteme in einer dritten Gestalt, die er (irrefüh-

x) Vgl. E. A. Ross, Seventy Years of it. An Autobiography; New York 1936,
Appleton-Century Company. Seite 242.
 
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