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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 32.1938

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Wiese, Leopold von: Ideenkunst und Sinnenkunst: (zu Pitirim Sorokins Lehre von der Fluktuation der Kunstformen)
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https://doi.org/10.11588/diglit.14217#0123
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IDEENKUNST UND SINNENKUNST

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„ideationistisch" nennt. Aber die Bezeichnung mag verhältnismäßig un-
wichtig sein.) Jedoch wie hoffnungsarm werden wir gelassen, wenn eine
solche Harmonie so furchtbar selten ist! Dabei lasse ich noch ganz dahin-
gestellt, ob die Dome und Statuen jener Zeit wirklich die Merkmale des
stillen Ruhens in Gott und nicht vielmehr das Ringen aus der Tiefe zum
Lichte verkörpern. Und in den folgenden Jahrhunderten? Ist etwa Raphael
als Madonnen-Maler nur Ideationist? Besteht nicht vielmehr gerade auch
in der kirchlichen Kunst bisweilen ein schöner Zusammenklang von reli-
giösem Gegenstand und einer sinnenhaften Formgebung? Sorokin wird
vielleicht antworten, das sei eben das Kennzeichen der idealistischen
Kunst. Ist diese Harmonie aber so selten und seit dem 14. Jahrhundert
nicht mehr zu finden?

Worauf es mir ankommt, ist der Gedanke, daß man mit dem Wandel
und Gegensatz von Idee und Sinnlichkeit dem Wesen der Kunst nicht
gerecht wird, daß im Schönen allemal dieser Gegensatz überwunden ist,
und daß die Phantasieschöpfungen „visuell" sein müssen, ohne in der
Plattheit des nur Sinnlichen zu verharren.

Es ist durchaus richtig, daß die Erklärung der Kunst zum Selbstzweck
und ihre Emanzipation von anderen sozialen Zielen und Diensten keines-
wegs zu ihrer Vervollkommnung beigetragen haben. Das Geheimnis ihrer
Größe liegt in der Verknüpfung von Freiheit und Bindung. Es ist nicht
der Sinn meines Zweifels an der Gültigkeit der Sorokinschen Haltung, die
Selbstherrlichkeit der Kunst und die Forderungen des „Visualismus"
gegen seinen Theologismus zu verteidigen. Auch seine Einschätzung des
gegenwärtigen Zeitwandels, die übrigens einiges mit der im heutigen
Deutschland herrschenden gemeinsam hat, mag unanfechtbar sein. Aber
ließe sich nicht die ideationistische Dürre, der wir nach dieser Lehre zu-
nächst entgegengehen, vermeiden oder wenigstens vermindern, wenn wir
jetzt nicht anheben, einmal wieder unsere Sinne zu verfluchen?
 
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