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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 32.1938

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Balet, Leo: Synthetische Kunstwissenschaft
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https://doi.org/10.11588/diglit.14217#0135
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SYNTHETISCHE KUNSTWISSENSCHAFT

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Verhältnis von Gemeinschaft und Individuum hat sich sogar in den meist
konservativen Ländern wesentlich verschoben und ist im Begriff, sich
immer mehr zu verschieben. War die Haupttendenz bis vor kurzem die
Unterordnung der (wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, staatlichen) Ge-
meinschaften unter das Individuum oder jedenfalls unter eine verhältnis-
mäßig kleine Gruppe von Individuen, so tendiert man heutzutage eher
nach einer Dienstbarmachung des Individuums an die Gemeinschaft. Der
Individualismus hat damit nicht aufgehört und wird auch nicht aufhören:
was einmal da ist, kann niemals mehr rückgängig gemacht werden. Das
Individualistische wird jetzt sogar mehr denn je kultiviert, aber nur unter
dem Aspekt der Gemeinschaft, das heißt, um seinen Nutzen für die Ge-
meinschaft zu steigern.

Auch auf wissenschaftlichem Gebiet vollzieht sich bereits eine Syn-
these. Wie die Naturwissenschaften vor rund 100 Jahren mit der Speziali-
sierung vorangingen, so sind sie auch jetzt die ersten, die die Spezialisie-
rung aufheben. Es gibt längst keine Physik mehr, sondern nur noch
chemische Physik, keine Chemie, sondern nur noch physikalische Chemie.
In der Atomtheorie haben sich die Physik und die Chemie zu einer höheren
Einheit verschmolzen.

Das Bestreben nach Synthetisierung greift sogar schon weit über die
Naturwissenschaft hinaus. Wir erinnern nur daran, wie Prof. Dr. R.
Planck voriges Jahr in Karlsruhe auf den Gegensatz hinwies zwischen
der erstaunlichen Entwicklung der verschiedenen Wissenschaften und dem
Zurückbleiben in der organischen Zusammenfassung der Einzelerkennt-
nisse, so daß heute das Fehlen eines geschlossenen wissenschaftlichen
Weltbildes immer wieder schmerzlich empfunden wird. Von den exakten
Naturwissenschaften zu den Geisteswissenschaften und darüber hinaus
zur Kunst, meint Planck, führe ein beinahe stetig verlaufender Weg, an
dessen Grenzpfählen die Namen Biologie, Psychologie, Soziologie und
Geschichte ständen.

Die Ursache der augenblicklichen Krisis in den Kunstwissenschaften
liegt meines Erachtens auch darin, daß die Kunstwissenschaft mitten in
der allgemeinen Entindividualisierung und Synthetisierung nach wie vor
an ihrer rein individualistischen Wissenschaftsform und ihrer
rein individualistischen Wissenschaftsmethode festhält, unbe-
kümmert darum, daß die jüngere Generation von Kunsthistorikern sich
täglich voll Verzweiflung abfragt, was sie mit dem Wust von zusammen-
hangslosem Material nun eigentlich anfangen soll.
 
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