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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 32.1938

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Müller-Freienfels, Richard: Das Überwirkliche in der Kunst, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.14217#0137
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DAS ÜBERWIRKLICHE IN DER KUNST

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Wirkung ist die, daß sie auch den ihnen gegenübertretenden Menschen
herausheben aus der gewöhnlichen Wirklichkeit, ihn in eine ge-
hobene Stimmung versetzen, die sich jenachdem als Erschütterung,
Ehrfurcht, Bewunderung oder in ähnlichen Affekten äußert. Das Erlebnis
des Erhabenen ist nicht ein reines Lustgefühl wie das Erlebnis des Schö-
nen: es kann ein Unlustgefühl einschließen, ein Gefühl subjektiver Depres-
sion, Furcht, Demut, Kleinheit, das sich jedoch an dem erhabenen Kunst-
werke aufrichtet zu den Gefühlen der Ehrfurcht, der Bewunderung, die
ihrerseits lustbetont sind und zu rauschhafter Lebenssteigerung werden
können.

Überblicken wir die Kunst, die „erhaben" wirkt, so tritt als sichtbarstes
Kennzeichen, zumal bei der Raumkunst, die Steigerung der Quantität,
dieräumlicheGröße heraus. Die Formgebung strebt nach Größe im
mathematischen Sinne. Allerdings wird diese Größe auch als Ausdruck
einer erhabenen Kraft erlebt. Diese Kraft jedoch kann auch noch in
anderer Form sich ausdrücken, etwa in der bildenden Kunst physiogno-
misch und mimisch, in der Dichtung durch Schilderung besonders kraft-
voller Charaktere und ihrer kraftbeweisenden Taten. In diesen Fällen ist
die „Größe", die Erhabenheit nicht räumlich, sondern dynamisch,
moralisch, charakterlich.

Danach können wir zwei Arten des Erhabenen unterscheiden, wie das
schon Kant und Schiller getan, obwohl wir in Bezeichnung und Bestim-
mung etwas abweichen. Wir können zunächst das formal-quanti-
tativ Erhabene und daneben das expressiv-dynamisch Er-
habene unterscheiden. Erhaben im ersten Sinne sind etwa die ägypti-
schen Pyramiden und Statuen; erhaben im expressiv-dynamischen Sinne
ist etwa der Moses des Michelangelo, der erhaben wirken würde auch noch
in kleiner Nachbildung, obwohl es kein Zufall ist, daß der Künstler selbst
ihn in Überlebensgröße gemeißelt hat. Gemeinsam jedoch ist aller erhabe-
nen Kunst, daß sie eine über das Normalmaß gesteigerte Welt darstellt,
wobei keineswegs immer „Schönheit" erstrebt wird, obwohl in der späteren
Entwicklung das Erhabene zumeist sich dem Schönheitsideal annähert.

Auf Zeiten, die weniger das Erhabene als das Schöne oder Anmutige
suchen, wirkt die erhabene Kunst meist als „formlos" und „maßlos", weil
hier unter Form die qualitativ-schöne Form oder das harmonische Maß
verstanden wird. Indessen ist das eine Einengung des Begriffs der Form
und des Maßes. „Formlos" und „maßlos" sind die erhabenen Kunstwerke
nur vom Standpunkt einer harmonisierenden Schönheitsästhetik aus be-
urteilt. Aber auch die quantitative Steigerung ist ein „Form"prinzip und
ebenso das rein riesenhafte „Maß". Die „Größe" hat durchaus eine selb-
ständige ästhetische Wirkung, die unabhängig von qualitativer Durch-
bildung seelisch ergreift. Ebenso sind die gewaltigen Taten der frühen
 
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